An das Gefühl an jenem sonnigen Morgen erinnere ich mich noch sehr genau. Die Brücke hinter mir war nun verbrannt, es ging nur vorwärts. Einen Haustürschlüssel trug ich nicht bei mir, er hätte mir ja auch nichts genützt. Dieses Schloss würde sich nie mehr öffnen lassen... Auf dem Rücken trug ich den Trek- kingrucksack, fertig gepackt für den Camino Mozarabe, in der einen Hand den kleineren Rucksack mit den Sachen für die Tage bei meinem Freund Peter Würl im Allgäu und in der anderen einen Stoffbeutel mit meinen letzten Lebensmitteln. Wem hätte ich sie auch geben sollen und wegwerfen kam nicht in Frage...

Nach dem sogenannten "Eis-März 2013" und dem verschneiten April war dies nun der erste warme Tag des Jahres. Ausgerechnet! Am Taxenplatz in der City angekommen war ich schon völlig erschöpft und dachte für den Bruchteil einer Sekunde daran, mich von einem solchen Gefährt zum Bahnhof kutschieren zu lassen - was aber im gleichen Moment auch schon verworfen wurde. Ich quälte mich also durch, indem ich mein schweres Handgepäck alle 50 Meter kurz absetzte. Nassgeschwitzt erreichte ich mein Ziel, war froh, als ich im Zug saß, dass ich die Abfahrtszeit nicht versäumt hatte. Aber fühlte mich unglaublich traurig, leer und einsam. Mein 4. Jakobsweg hatte begonnen und niemand mich verabschiedet. Ich dachte daran, wie es sonst beim Aufbruch gewesen war: Abschiedsfotos mit meinen Kids, Umarmungen, gute Wünsche, ihr Ruf: "Buen Camino Mama, wir haben Dich lieb!" Als die Räder über die Brücke am Delft ratterten rief ich: "Buen Camino, Gabriele!" Um mir selbst Mut zu machen.

Erst am späten Abend traf ich mit mehrfachen Umstiegen erschöpft in Süddeutschland ein. Der letzte Um- stieg klappte wegen der Bahnverspätung nicht und ich saß eine Stunde lang in der allgäuischen Provinz stumpf auf einem Bahnsteig. Benutzte zum allerersten Mal das bei eBay ersteigerte, noch rätselhafte Smart- phone und war froh die richtigen Stellen zu drücken, Peter informieren zu können: "Ich hänge hier fest!" Er reagierte gelassen und ich genoss auch die letzte Fahrstrecke buchstäblich in "vollen Zügen", denn dort quetschte sich hinein, was nur irgend möglich war...

Als ich Peter sah war ich total erleichtert, denn er war ganz genauso wie ich mir meinen virtuellen Brief- freund seit fünf Jahren (!) vorgestellt hatte. Ich glaube, er fand mich größer als gedacht, jedenfalls war er leicht irritiert, was sich aber rasch legte, beim Kaffee auf dem Bahnhofsvorplatz. Der stand an, da der Bus in seinen kleinen Ort erst eine weitere Stunde später fuhr. Mit dem wir dann eine Rundreise machten. Hätte ich geahnt, was ich diesem geduldigen Menschen dadurch aufgeladen hatte - ich hätte das niemals in Gang gesetzt!! Man denkt: 27 km bis zum Flughafen, das ist ja fast nix! Nun, in Hamburg oder Bremen vielleicht nicht, aber dort?!

Nichtsdestrotrotz verbrachten wir schöne freundschaftliche Tage miteinander. Ich hatte das Gefühl ihn im- mer schon zu kennen und wir waren uns vertraut von vielen Briefen und Telefonaten. Legendär unser Nachmittag in seinem Garten mit freundlichen (gar nicht neugierigen) Nachbarn, viel Sonne und einer  Fla- sche Rotwein. Die Lesung am Abend in der örtlichen Bücherei wurde trotzdem punktgenau erreicht, bloß war wenig vorbereitet und Peter hatte nicht einmal seine Brille bei sich, worüber wir vergnügt gelacht ha- ben. Es war einfach alles locker und entspannt. Danke, lieber Freund, für diese unbeschwerten Tage, wie es nur wenige in meinem Leben gab und hätte ich geahnt, wie alles kommen würde...

Aber ich wusste es nicht. In halber Nacht (4 Uhr und...) standen wir auf, mein Osprey war gepackt für den Weg ab Granada. Nach einem kurzen Frühstück ging es mit (3x?) mehrfacher Umsteigerei zum Flughafen. Ich konnte Peter gegenüber gar nicht ausdrücken wie dankbar ich war, dass er noch eine Weile mit mir wartete. Fast, bis der Aufruf: "Check in" erfolgte. Da saß er schon im Rückbus, weil er einen Handwerker-termin in seiner Wohnung hatte. Die sorgenden Gedanken holten mich ein. Der Weg stand für mich unter keinem guten Stern, da alles anders als sonst war. Ging ich mit dieser extremen Tour ein zu großes Risiko ein? Würde ich Santiago heil erreichen?

Auch in der Ryanair - Maschine dachte ich weiter darüber nach. Da ich das Geld für die Reservierung spa- ren wollte, erhielt ich einen der noch übrigen Plätze. Rückenlehne nicht verstellbar, Knie am Klapptisch des Mannes vor mir und das für fast 5 Stunden. Ich glaube, dieser Flug kam mir unendlich vor. Und es gelang mir nicht das alberne Gelaber der Dummbrote neben mir auszublenden. Kopfschmerzen. Bleierne Müdig- keit. Und Unverständnis bei mir, warum ich mich "so anstellte". Nun, das habe ich inzwischen begriffen. Ein Asperger mitten in der Spanien-Spaß-Proll-Horde. Schlimmer geht's kaum...

In Malaga musste ich ein Busticket kaufen und danach den richtigen Transporter zum Busbahnhof finden, das durchdachte ich etliche Male. Würden meine Spanischkenntnisse für alle Fragen / Infos ausreichen? Es war so. Aber: der Bus für 50 Menschen gedacht, wurde mit etwa 120 gefüllt. Problem? Siehe oben. An der "Estacion des Autobuses" noch einmal das gleiche Problem. Ticketkauf wo? Abfahrt des Busses wo? Wenn überall welche stehen... Wartezeit. Ich war schon bedient. Von der Stadt. Der sichtbaren Armut. Und am Ende der bettelnden Frau, die jeden Reisenden ansprach und dann einen Nervenzusammenbruch bekam. Das fuhr mir durch sämtliche Glieder. Wie sie schrie, zum Himmel flehte. Für ihre Kinder. Ich begann zu begreifen, dass das Spanien von 2013 nicht mehr jenes war, das ich Jahre zuvor verlassen hatte. Oder war ich als Pilgerin in Nordspanien blind gewesen??

Stunden später Ankunft in Granada. Ich war irgendwie enttäuscht. Was hatte ich erwartet? Die Alhambra auf einem hohen Berg über der Stadt thronend? Ja! Genau das. Aber da war nur eine quirlige Großstadt mit Menschengewimmel, Hitze, stinkendem Autoverkehr. Also Suche nach einer "Info". Fand ich. Die Aus- kunft die ich erhielt war falsch. Ich nahm den Bus den ich sollte, stieg aus, wo ich sollte. Grundverkehrt. Suchte lange vergeblich nach der kleinen Straße mit dem gebuchten Hostal. Mit 13 kg auf dem Rücken (ei- nem Fünftel meines Gewichts) plus 1-Liter-Wasserflasche. Welche wirklich tief empfundene Glückseligkeit, als ich endlich die Adresse fand, das kleine Zimmer mit dem Bett und der Karodecke bezog!

Am frühen Abend hatte ich mich ausgeruht, lief los. Es konnte nur ein Ziel geben: Die seit Kindheitstagen ersehnte "Rote Burg". Es war das seltsame Gefühl einer Heimkehr. Als habe ich schon tausende Male so auf die Alhambra geschaut, vom gegenüberliegenden Albaicin aus. Ein kleiner Fluss eilte dahin, Straßenmusi- kanten spielten, Gaukler bliesen riesige Seifenblasen, unterhielten ihr Publikum. Aus dem Winter war ich in den Frühling mit all' seinen Blüten und Düften katapultiert worden.

Es war Freitagabend. Der Berg erschien mir wie ein Hügel. Leicht zu bewältigen.

Bis zum Montagabend erklomm ich ihn tatsächlich leichten Fußes oft. Als ahnte ich,

welches Unheil mich bald darauf ereilen und alles für immer verändern würde.

 

 

Es war, als würde mir etwas Großes geschenkt, um mir etwas Anderes zu nehmen...