Trübe ist es heute, grau, dunkel, windig, regnerisch. Heiligabend steht bevor und die trostlose Wetterstimmung wird sich wohl fortsetzen...

 

Meine Gedanken gehen zurück zum 2. November, unserem ersten Morgen in Lissabon. Auf dem gläsernen Tisch unseres kleinen Häuschens liegen Brötchen und Kuchenteile in Tüten verpackt. Viel mehr hätte es nicht gegeben, sagt mein Held. Der sich mal wieder fast ohne Fremdsprachenkenntnisse durchgeschlagen hat. Das bewundere ich. Denn ganz sicher hätte ich z.B. in Paris keine Bäckerei zwecks Einkauf aufgesucht (mein Französch ist grottig)!

 

Nun beginnt meine Sucherei in den noch fremden Schränken einer ziemlich großzügigen Küche, wenn man die Dimensionen unserer winzigen Behausung bedenkt. Ähnliches fiel mir schon in Porto auf: alles überkomplett ausgestattet, als wolle man eine ausufernde Familie mit einem riesigen Festmahl beglücken! Wir sind halt in Portugal, wo Familienleben und gemeinsame Mahlzeiten immer noch einen hohen Stellenwert haben.

 

Viel buntes Geschirr findet sich und mit Geduld passen Becher, Teller und Schalen am Ende farblich zusammen. Schnell noch die schöne Duftkerze im Glas angezündet und wir können schlemmen. Ganz ohne Butter, Wurst und Käse – denn zum Einkauf im Supermercado wollen wir erst später gehen. Es ist einfach schier unglaublich für mich, in Shorts mit Shirt geschlafen zu haben und mich so auch am Tisch zu lümmeln. Ohne zu frieren. Ich bin total entspannt. Wärme ist für mich immer etwas Besonderes und keine Selbstverständlichkeit. Sie allein würde für mich schon als Grund ausreichen, um ein paar Tage in Portugal zu verbringen.

 

Aber wir befinden uns in Lissabon, einer der schönsten Metropolen der Welt, Kulturerbe der Menschheit , Stadt des Lichts, des Fado, der Saudade. Und natürlich erwartet uns der Tejo, der hier, nahe des Mündungsdeltas in den Atlantik, nahezu zehn Kilometer breit ist. Zu ihm zieht es uns hin, denken wir doch so oft an seinen Konkur-renten in Nordportugal den von uns so geliebten blaugrünen Douro. Also machen wir uns auf, in Spätsommerkleidung und mit Sandalen. Jeder dritte Satz beginnt in etwa mit: „Wir haben No- vember! In Deutschland wäre... hätten wir... würden wir...“

 

Gutgelaunt laufen wir den Weg direkt zum Tejo hinunter, den wir von der Nacht her noch kennen. Im Park spielen Kinder, überall sitzen Menschen in Straßencafés, Portugiesen, die sich entspannt der Zeit hingeben. Wir sind weniger locker, als wir erneut auf den hohen Metallzaun blicken, der uns den Weg zum Ufer versperrt. Auf der Schnellstraße braust in beide Richtungen mehrspurig der Großstadtverkehr. Seufzend bleibt uns nur übrig dort entlang zu laufen, in Richtung Osten, irgendwo wird sich doch wohl eine Brücke finden lassen?! Abgase umwehen uns und immer mehr Trubel entwickelt sich, Bus an Bus, Touristenmassen quellen heraus. Ich glaube, dort begann ich zu begreifen, dass ich mich am gänzlich falschen Ort befand...

 

Wenigstens entdeckten wir nach längerer Suche einen Tunnel auf die andere Seite. Nicht gerade einladend. Schmuddelig, mit Müll der endlosen Schaulustigenschlange belastet, von Straßenmusikern vielstimmig beschallt, die auf Spenden hofften, ebenso wie einige forsche Bettler. Ich fühlte mich bedrängt, eingezwängt, ausgeliefert. Wollte es sagen. Aber niemand hörte mir zu...

 

Endlich Licht, Luft, Freiheit, ich rannte förmlich die Stufen hinauf, um tief durchzuatmen und die bedrückenden Bilder hinter mir zu lassen. Wir waren nun tatsächlich auf der anderen Seite ange- kommen und bis zum Tejo war es nicht mehr weit. Enttäuscht stand ich an seinem einbetonierten Ufer, als wir es erreicht hatten - das war in meinen Augen kein Fluss (der längste Portugals), das er- schien mir wie ein Kanal, eine künstliche Wasserstraße, einge-zwängt in ein steinernes Bett. So etwas wie tiefer Schmerz erfasste mich, die Trauer, nicht am Douro zu sein, an seinem Ufer nach Treibholz zu suchen, mich sattzusehen an den auf ihm schau-kelnden Fischerbooten und bunten Schiffchen. Noch einmal eine Erkenntnis. Über sich „daheim fühlen, angekommen sein“ und dem Empfinden von Fremdheit...

 

Es blieb nur sich vorzunehmen, aus allem das Beste zu machen – es war ja nun nichts mehr zu ändern! Sicher würde es noch ganz an- dere Momente geben, die alles ausglichen! So hoffte ich jedenfalls. Was gleich enttäuscht wurde, als ich erkannte, dass hier eben alles anders war. Die Hafenbecken, welche mir bei der Ansicht über google maps noch so verlockend erschienen waren (dümpelten hier doch Yachten vor sich hin) erwiesen sich in der Realität als ner- vendes Hindernis, um am Tejo entlangzulaufen. Wir umrundeten sie also, landeten wieder an der nach Abgasen, stark befahrenen Schnellstraße, eingezwängt in oft asiatische Tourigruppen, die stoisch der Fahne des Reiseführers folgten, nicht ohne wahllos alles rechts und links abzulichten, was sich auch nur irgendwie später als interessant erweisen könnte.

 

Das Denkmal der Seefahrer - welches ich daheim auf Bildern noch so faszinierend gefunden hatte - erwies sich als relativ neuzeitli- cher, grauer Betonklotz, total eingerüstet wegen gerade statt-findender Renovierungen. Was die uns umgebenden Menschen-massen nicht an tausendfach klickenden Kameras hinderte. Ohne das eigentliche Objekt im Blick zu haben, allerdings. Denn der Trend dieser Zeit heißt: SELFIE. Was real bedeutet, dass die Foto- grafierenden permanent mit dem Rücken zu den Sehenswür-würdigkeiten seitlich laufen, mit grinsendem, oft äußerst debilen Gesichtsausdruck. So hatte ich das bisher noch nie wahrgenommen. War geschockt. Irritiert. Auch wenn ich das Denkmal nicht gerade berauschend fand, so hatte ich es mir doch angeschaut. Mit meinen eigenen Augen und nicht über ein Handydisplay. Was ist das für eine Welt, oder besser wohin entwickeln sich die Menschen auf ihr? Verblöden sie nicht offenbar immer mehr? Außerdem fällt mir zum ersten Mal der Begriff "würdig des Sehens" gerade extrem auf - was sollte "Sehenswürdigkeit" denn sonst bedeuten? Sollte er umbenannt werden in "Selfiewürdig"?

 

Begeistert entdeckte „der Große“ ein altes Flugzeug, von dem er im Lissabonführer gelesen hatte. Fotos sollten her. Ich fragte nach: „Aber da stehen, sitzen, lehnen überall Menschen. Möchtest du wirklich ein solches Bild? Lass' uns doch noch kurz abwarten!?“ Heute denke ich, er verstand gar nicht, was ich damit meinte. Er vor diesem Modell aufgebaut, das war doch toll, mehr wollte er gar nicht. „Ich hab' da gestanden!“ Es löste irgendwie etwas in mir aus, das ich in den Folgetagen (oder bis heute?) überhaupt nicht mehr loswurde. Ich erkannte: ER ist nicht anders. Als dieses ganze ober- flächliche Herdenvolk um uns herum! Ihm genügt so etwas. Oder umgedreht: ICH bin völlig anders. Habe ganz andere Bedürfnisse. Suche extrem andere Orte. Bin überhaupt kein Massenmensch. Was Fragen für mich aufwarf: WIE bin ich denn dann? WONACH suche ich? WAS brauche ich? WOMIT fühle ich mich wohl? WO ginge es mir gut? WAS würde mich glücklich machen? Oder WER? An die- sem Tag fand ich keine Antworten darauf. Aber ich bekam sie bald. Unübersehbar. Deutlich.

 

In einer Situation, in der rein gar nichts darauf hindeutete.

Aber ich lief ihr (ihm) buchstäblich direkt in die Arme...