Nein, ich will mich nicht erinnern. Weil ein Leben lang ist. Und man nicht ständig an seine Kindheit denken darf. Als Entschuldigung dafür, dass man Entscheidungen getroffen hat, viele Jahre später. Oder eben nicht. Man war damals ein Kind. Ausgeliefert der jeweiligen Situation. Mehr oder weniger hilflos. Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen. Alles das, was einmal war, kann doch keine Rolle mehr spielen in der Gegenwart? Sollte es jedenfalls nicht. Und doch ist es anders...

Wir sitzen im Zug. Unterwegs zu einer Hausbesichtigung. Ich hatte von diesem Objekt erzählt, ganz unbe- darft. Nach einem langen Spaziergang entlang eines Kanals, mit Schleusen und Brücken. Mit eben jenem Freund / Nachbarn, der mich mit der Nase auf des Pudels Kern gestoßen hat. Als er sagte: "Ich glaube, du bist auch Asperger - wie ich!" Das traf mich. Ins Herz. Ich googelte. Las. Nächtelang. Und verstand plötz- lich. Wer ich war. Und warum manches eben so war, wie es war...

Ich hatte gesagt: "Ich schaue mir ein Objekt an, in XY!" Und er antwortete: "Ich würde gern mitfahren!" Vier Worte. Punkt. Oder Ausrufezeichen? Tatsächlich sind wir gemeinsam unterwegs, am Freitag dem drei- zehnten März. Ein Vorzeichen? Gut, oder schlecht? Ich bin längst zu alt, um mir darüber Gedanken zu ma- chen. 

Was ich wissen muss, das habe ich mir ausgedruckt. In meinem Daypack befindet sich alles was ich brau- chen könnte. Da ich kein Geld zu verschenken habe muss ich vorsorgen. Mit Bananen und Saft. ER hat gar nichts bei sich. Also finden wir uns 2x bei ALDI wieder. Möchtest du ein Getränk? Nüsse? Schokolade? Obst? Ich schüttele abwehrend mit dem Kopf. Ich habe was ich brauche. Oder besser gesagt: Ich brauche nichts. Die mitgeführten Bananen und der abgefüllte Tee kehren unberührt wieder heim. Dreizehn Stunden ohne irgendetwas.  Mein Magen ist wie zugeschnürt. Nicht wegen IHM. Sondern generell. Fast elf Stunden in überfüllten Zügen. Umsteigen, Plätze suchen. Menschenmassen. Stress pur für jeden Autisten.

Das anvisierte Haus in der Südheide ist wie angedacht. Und doch ganz anders. Es hat einen Turm mit Fern- blick. Ist wie eine Insel. Wir fotografieren aus den Fenstern in alle Himmelrichtungen hinaus. Cool! Das wä- re voll mein Ding. Wenn es zwei Etagen tiefer nicht den Raum gäbe, in den der letzte Besitzer sich zurück- gezogen hatte, in seinen letzten Lebensjahren. Ich erschrak gewissermaßen zu Tode, als ich ihn betrat. Weil ich so unendlich viel von dem spürte, was sich dort zugetragen hatte. Bevor der alte Mann dieser Tristesse zu entfliehen vermochte...

Er liegt nun wenige Meter entfernt im frischen Grab. Es gibt noch keinen Grabstein, nur ein Holzkreuz mit dem Namen. Es schaudert mich, als ich daran vorbeigehe, nur durch eine niedrige Hecke getrennt. Sie wä- re die Grenze meines Grundstücks. So, wie sie vor wenigen Tagen noch seine war. Alles steht noch in sei- nem Zimmer. Die zuletzt benutzte Kaffeetasse. Seine Schuhe. Das Bett, aus dem man ihn offenbar gezerrt hat. Nach seinem Suizid. Es riecht nach all' den Zigaretten, die er in seiner Einsamkeit geraucht hat. Sie nehmen mir fast den Atem.

Ich schaue auf die Spüle mit dem zuletzt gebrauchten Geschirr. Denke an meine Mutter. Deren ausgetrock- nete Tasse ich sofort in die Mülltonne im Hof gebracht habe. Damals. Als ich ihr Leben aufräumen musste. Die hinterlassene Materie. Immer war ich für alles zuständig gewesen, solange ich zurückdenken kann. So hat sie gehandelt bis zum Ende. Das will ich nicht wiederholen. Oder besser gesagt: Könnte es nicht! Alles muss irgendwann vorbei sein! Um eine Zukunft zu haben...

Wir sitzen in den Zügen zurück. Ich habe mir ausgedruckt wann wir wo umsteigen müssen. Logo, wie soll- te es sonst gehen?! Der Mann an meiner Seite folgt meinen Ansagen. Vertrauend. Als fühle er sich sicher mit mir. Wir kennen uns seit einem Vierteljahrhundert. Ist es die Zeit die uns verbindet? Er lächelt. So leise, wie es seine Art ist. Sagt mir, wie er bewundert, dass ich so ganz anders sei. Geordnet, klar, strukturiert. Während in seinem Kopf ständig Wirrwar herrsche. So wirkt er nicht. Eher leise, schweigsam. Jemand, der mit wenigen Worten viel sagt. Immer intensiv durchdenkt was geschieht.

Wir sind beide Asperger. Uns ungeheuer ähnlich. Und doch so gänzlich anders! Ich bin dankbar dafür, ihn zu kennen. Weil ich ihm gegenüber keine Masken aufsetzen, oder Rollen spielen muss. Sein kann wie ich bin. Weil er mich versteht. Wir reden über Gefühle. Liebe. Er ist für mich immer gleich. Irgendwie ohne jegliche Höhen und Tiefen. Leidenschaft scheint ihm gänzlich zu fehlen. Als gäbe es permanent eine gleich-bleibende Null - Linie. Bei mir gab es dagegen heftige Ausschläge. Ich kann zutiefst lieben! Wofür ich dank- bar bin. Mir wurde etwas geschenkt, was ihm versagt blieb. Ich habe mit Leid bezahlt. Aber auch tiefes Glück empfinden dürfen. Das war / ist alles wert!

 

Ich erzähle von der Begegnung mit Georg. Wie sie mein Leben durcheinandergewirbelt hat.

Wollte ich sie ungeschehen machen? Ab und zu. Wohl eine Lüge?! Alles war gut, wie es war.

 

 

 

Hätt' alle Wege verändert - hätt' ich sie vorher gewusst. Aber so war es eben nicht...