Ein Freund redet mir am Telefon gut zu, gibt Rat, versucht mit mir zu verstehen, was einfach nicht nach- vollziehbar ist. Es macht mir Mut meine Flügel zu benutzen! Zwei Plätze gab es noch auf der Ryanair - Ma- schine, zu der das wunderschöne Hostal in der Traumstadt einen freien Platz hat, für ganze zehn Euros pro Nacht, mit Frühstück. Zentral gelegen, nahe der Altstadt, nur Minuten vom Fluß entfernt, der mich zum At- lantik führen könnte...

Es ist schön zu träumen und für Minuten nicht an das Schreckliche zu denken. Aber trotzdem schaltet sich der Verstand nicht ab. Passt alles? Wenn ich auf "Bestätigung" klicke ist gebucht. Also alles abschreiben, nochmal durchdenken. Das ewig gleiche Problem: Ein Morgenflug ab Bremen darf es nicht sein. Denn ich könnte ihn nicht mit der Bahn erreichen: es fährt noch keine ab der Seehafenstadt um diese Zeit. Doch die- ser Flug ist mittags, alles liefe in Ruhe ab!

Der Rückflug brächte mich am Abend zurück, passte auch, oder doch nicht? Könnte ich den letzten Zug gen Heimat erreichen, wenn ich sofort eine Verbindung vom Flughafen zum Hauptbahnhof erwischte? Nein. Nein! Immer Bremen, immer wieder das gleiche Problem! Aber es liegt ja nicht an dieser Stadt, sondern an meiner... Neue Suche. Andere Flugtage, anderes Hostal? Anderer Flughafen? Basteln, schreiben, kombinie- ren. So ginge es. Nur viel komplizierter als gedacht. Alle drei Fenster sind nebeneinander geöffnet: Für die Übernachtung, den Flug und jenes der Bahn. Bei Ryanair muss ich zuerst buchen, wenn der Flug weg wäre, dann bräuchte ich das andere auch nicht...

Ich starre auf die Seite, ziehe den Cursor an die richtige Stelle und verharre. Weil ich (sicherlich nicht unbe- rechtigt) erkenne: Das würde ich gar nicht schaffen! So viel Stress packe ich nicht mehr, das ist seit dem Unfall vorbei und in der gegenwärtigen Situation sowieso. Man kann sich nicht selbst belügen, auch wenn es manchmal besser wäre. Also werden alle Seiten geschlossen. Das so mühsam im Winter bei den Stadt-werken ohne Heizung eingesparte Geld wird vernünftiger eingesetzt. Für's Haus. Alles wie immer. Und ob- wohl es so richtig ist, bin ich traurig. Weil es jetzt ist, wie es ist.

Drei Mal war ich nun mit meinem kleinen Jugendrad in Baumärkten und habe es mit Balken, Bretter, Leis- ten (bis 3m), Betonfarbe für den Haussockel, Fliesenkleber und ähnlichem Zeug beladen kilometerweit von den Gewerbegebieten durch die Stadt geschoben. Brav baue ich an jedem Tag, auch in der Werkstatt. Aber stehe zugleich oft im Giebelfenster, sehe hinaus und frage mich:

Was tust Du? Wofür? Welchen Sinn hat das?

Vier Holzteile will ich noch in Angriff nehmen, bzw. daran weiterarbeiten. Danach werde ich die Tür der Werkstatt schließen. Ich bin völlig leer, ohne jegliche Ideen. So kann man nicht kreativ sein. Mich interes- siert auch nichts wirklich. Die Gedanken gleiten ab. Aber angefangenes einfach so liegenlassen, das möchte ich auch nicht. Irgendwie wird es schon gehen. Müssen.

Es ist wieder kalt und ich trage erneut Fleece. Heute hat es viel geregnet. In gut sechs Monaten ist schon wieder Heiligabend. Und fünf Monate später habe ich erneut Geburtstag. Alles wie immer und doch nichts wie sonst. Aus meinem Haus ist wieder eine Burg geworden. Oder ein Dornröschenschloss. Schade, dass Fenster und Türen nicht mehr zuwachsen können wie früher, das sah schön aus. Ich mochte es, durch die Blätter nach draußen zu schauen. 

 

Als Kind war ich über Jahre eingesperrt, es gab nur Bauklötze. Mit Akribie übereinandergesetzt, Ecke auf Ecke, Kante genau auf Kante. Gestern hab' ich ein Foto davon gefunden, da bin ich vierzehn Monate alt:

 

Was hat sich in den sechzig Jahren danach verändert? Wenig. Die Gitterstäbe erschaffe ich mir heute selbst. Und gebaut wird immer noch, Kante auf Kante. So stumm wie damals bin ich auch noch. Sicher an weit mehr als dreihundert Tagen des Jahres, an denen ich niemanden sehe, meine Stimme nicht höre. Oder ist es umgedreht: An denen mich niemand sieht, meine Stimme nicht hört? Seltsam, dass manches aus der Kindheit sich später zu einem Kreis zu schließen scheint...

Mein kluger Therapeut sagte mir mal:

 

Ich sehe Sie immer als Schmetterling, den man in einem Käfig gefangen hält.

Sie sehen die Welt, aber vermögen sie durch die Stäbe nicht zu erreichen."

 

So ist es wohl. Darum blieb mir oft nur: zu schreiben. Doch im Moment mag ich nicht einmal mehr das...