Er saß auf einer Bank am Delft, als ich ihn zum ersten Mal sah. Den Blick über das Wasser gerichtet, als su- che er etwas in der Ferne, die hinter dem Meer liegt. Seine Augen fielen mir auf. So klar, so leuchtend blau, so weise, als hätten sie mehr auf der Welt gesehen, als die meisten Menschen. Ich sah ihn danach oft. Bei gu- tem Wetter bei den Schiffen, wenn es regnete in der Fußgängerzone, gegen den nordischen Wind geschützt durch die Geschäftshäuser ringsum.

Niemals stellte er eine Bettelschale vor sich auf wie die anderen Obdachlosen, welche durch unsere kleine Stadt ziehen. Ihre Augen sind gerötet vom Alkohol, oft haben sie sich einen Einkaufswagen angeeignet, in dem sie ihre bescheidene Habe aufbewahren. Der Standardsitzplatz befindet sich gegenüber eines Fastfood - Restaurants. Sobald das Geld reicht kann man hinein gehen, eine Mahlzeit bestellen. Oder Kaffee, um die Glieder zu wärmen. Wenige Meter entfernt verkauft ein Supermarkt den Drink, der Vergangenheit und Ge- genwart (ab)tötet. So mancher liegt dann gekrümmt unter der Bestuhlung, in einen erlösenden Schlaf gefal- len. Der alles auslöscht, für eine kurze, gnädige Zeit.

Ich begann den Mann zu mögen, der seine Tage so still und zugleich aufmerksam verbrachte. Immer trug er eine Trappermütze, auch in der Sommerhitze. Was ich lange nicht verstand. Manchmal war es glühend heiß, alle zogen aus, was nur irgendwie ging. Er saß da, wie immer. Mit der wärmenden Kunstfellmütze, die Klap- pen über den Ohren, den Parka geschlossen, wie sonst auch.

Der Herbst kam. Und damit sein Umzug in die kleine City. Es regnete oft, manchmal schüttete es geradezu. Der Mann (der wohl meines Alters ist / war) veränderte seine Haltung nicht. Er schaute noch immer auf ei- nen imaginären Punkt in der Ferne. Außer, wenn kleine Kinder in seine Nähe kamen, oder Hunde. Sie inspi- zierten die Plastiktüten, welche er neben sich aufgestellt hatte. Die wohl alles beinhalteten, was er besaß. Er wurde nie unwirsch. Als verstände er die Neugier. Und wenn ein Zwerg in seine Nähe kam, so lächelte er. Kaum sichtbar. Als wolle er es vermeiden seine Gefühle allzu sehr zu zeigen. 

Im Winter schneite er manchmal ein. Eine dünne Karodecke über die Beine gelegt. Die Mütze sah an solchen Tagen aus, als sei sie aus edlem, weißen Nerz. Aber das Gesicht darunter war rot und verfroren. Der Mann hatte sich so in sich selbst zurückgezogen, dass er plötzlich viel kleiner wirkte. An einem solchen Tag ent- schied ich es. Suchte meinen Winterschlafsack hervor. Stopfte ihn in jenen Salewa - Rucksack, der mich auf den beiden ersten Jakobswegen treu begleitet hatte. Stülpte schützend einen blauen Plastiksack darüber.

Irgendwie beschämt, mit dem Blick nach unten auf den Boden gerichtet, übergab ich, was ich geben wollte. Fast in dem Gedanken Unrecht zu tun. Der Mann sah mich an. Mir irgendwie ins Herz. Und mir kamen die Tränen. Steifgefrorene Hände packten aus. Und ich schämte mich, die Trekkinghandschuhe nicht bedacht zu haben. Schnell lief ich davon. Um peinliche Momente zu vermeiden.

Wenn wir uns nun sahen, dann nickten wir uns zu. Stilles Verstehen, in der Hektik der Einkaufsstraße. Er wurde wahrgenommen. Und ich auch. Es hat wohl uns beiden etwas bedeutet... An Heiligabend saß er auf seiner Bank, wie sonst auch. Nun einen blauen Müllsack neben sich, schützend über dem Inhalt. Es schneite in dicken Flocken, aber sie schmolzen nach wenigen Sekunden auf dem Boden. Es war knapp über null Grad.

Von weitem sah ich ihn schon. Alles schien wie immer zu sein. Aber als ich an ihm vorbeiging und ihm zu- nicken wollte, noch überlegend, ob ich einen Weihnachtsgruß aussprechen sollte, da sah ich eine kleine Bier- flasche, die er im Arm hielt. Nur dieses eine, einzige Mal. Hörte, wie er mit leiser Stimme "Stille Nacht, hei- lige Nacht" sang.  Ganz leise, aber wunderschön. Ich wagte nicht etwas zu sagen. Dabei hätte ich mich so gern bedankt für dieses (mein einziges) Weihnachtsgeschenk.

 

Danach sah ich den Mann nie wieder. Ob er fortgegangen ist an einen anderen Ort?

Nur noch 12° sind es jetzt in meinem Zimmer. Am Morgen wollte ich fast jammern.

Da fiel ER mir ein. Und ich schämte mich ungeheuer. Wie reich bin ich doch...