Ausgerechnet in dieser Nacht sucht ein winterlicher Schneesturm die Küste heim. Spät bin ich ohnehin ein- geschlafen, voller Gedanken, was mich am Folgetag alles erwarten würde. Nun wird jener also damit be- ginnen, Schnee zu räumen. Da das Getobe und Gejaule nicht aufhören will, schlüpfe ich irgendwann aus dem Bett, schiebe den weißen Vorhang des kleinen Sprossenfensters beiseite. Die Scheiben in der Größe zweier Postkarten sind fast komplett zugeschneit. Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet in dieser Nacht, in der ich ohnehin angespannt bin.

Den Wecker brauche ich am Morgen nicht, die Kälte weckt mich auf. Rasch noch einmal alles überprüfen, was am Vortag bereitgelegt wurde. Mehrere Bekleidungsschichten an Fleece und Merino. Die Kamera mit aufgeladenem Reserveakku. Das Smartphone ebenfalls mit voller Kraft versorgt. Den Stadtplan der Hanse- stadt. Die Fotos, welche ich im Keller gefunden habe. Den Zettel mit allen Zugverbindungen für Hin- und Rückfahrt. In Nahverkehrszügen und mit Niedersachsenticket erlaubt.

Der Instantkaffee (bibbernd und mit Eile in der frostigen Küche gebraut), erwärmt nicht wirklich. Schnee war nicht eingeplant, die eigentlich angedachte Reihenfolge des Morgens ändert sich. Erst alle Zwiebel-schichten anzulegen, um den Bürgersteig frei zu räumen und sich dann auszukleiden, um zu duschen, ist suboptimal. Aber erst duschen und sich in Reisebekleidung ins Flockentreiben zu begeben ist auch nicht besser.

Also anziehen. Raus. Bei dichtem Schneefall versuchen zu fegen. Unmöglich. Also tritt die kleine Schaufel in Aktion, der Handfeger darf ruhen. Wie fest die weiße Masse ist?! Komprimiert von den (noch) früher auf- gestandenen und zur Arbeit strebenden Fußgängern. Erstaunlich, dass man schwitzen kann und zugleich frieren. Duschen. „Gute“ Bekleidung anziehen, frisch gewachste Wanderstiefel mit Wolleinlegesohle. Viel- leicht schauen wir uns die Stadt an? Es wird kalt sein am Wasser. Die Sehenswürdigkeiten habe ich mir zu- sammengestellt und ausgedruckt. Oft war ich dort. Waren wir dort. Früher. Damals, als es noch eine Fami- lie mit engem Zusammenhalt gab. Nicht nachdenken. Jetzt ist jetzt. Und heute kann vieles anders werden. Einen ganz neuen Blickwinkel eröffnen. Was so sein wird. Doch ist es gut, dass ich es in diesem Moment noch nicht konkret weiß und alles möglich zu sein scheint…

Apfelsaft umfüllen, in die Wasserflasche vom Camino. Den gepackten Rucksack greifen, mit Blick auf die rote Billigarmbanduhr am Handgelenk, welche seit der Rückkehr von Spanien nicht mehr angelegt wurde. Doch nun geht alles nach ihrem Takt. Tür vorsichtig zuziehen, hinaustreten in die Flocken, die leise, aber beständig, weiße Vorhänge weben. Meine Nachbarin ist mit ihrem Schneeschieber in Aktion, ich muss an ihr vorbei. Was nicht ohne Ansprache funktioniert. Sie redet auf mich ein, bzgl. ihres Daches, ihrer Regen-rinnen und meiner. Ihrer Meinung nach müsste viel bei mir gemacht werden. Kein Thema, das ich in die- sem Moment und bei dieser Wetterlage auf dem Bürgersteig besprechen möchte. „Sei mir nicht böse, ich bin in Eile, wir können telefonieren, ich muss meinen Zug erreichen…“

Die Apotheke hat Schmerzmittel im Angebot, für 1.20 €. Brauche ich eventuell, wegen der ewigen Kopf- schmerzen. Sonst nehme ich sie hin. Aber nicht an einem Tag wie diesem, da muss ich meine Gedanken klar beisammen haben! Der Discounter ist das nächste Ziel. Drei Bananen sollen es sein. Hat auch etwas vom Jakobsweg. Sie sind preiswert, bringen ihre verrottende Verpackung mit und sättigen.

Am Bahnhof sind alle drei Ticketautomaten besetzt. Doch es ist früh genug. Und zugig, im wahrsten Sinne des Wortes. Hektik herrscht. Es ist Wochenende. Endlich bin ich dran. Denke an Portugal, die Anspannung, ob ich alles verstehen und die richtige Fahrkarte ausdrucken würde. Meiner Freundin war es hier 2009 nicht gelungen, was ein mächtiges Theater zur Folge hatte. Nun stehe ich am selben Platz, lese, drücke Tasten, schiebe meinen (unter aufregenden Bedingungen am Vortag geliehenen) Schein in das Geldfach. Wechsel- geld und Beleg fallen heraus. Alles gut also. Jedenfalls in diesem Moment.

Der Bahnhof ist eine einzige Baustelle. Wann „reise“ ich schon mal? Aber gerade jetzt… Überall Absperrun- gen, Hinweise, nein, nicht dort entlang, sondern hier, dafür diese Treppe hoch und da nicht. Der provisori- sche und mit Brettern vernagelte Bahnsteig hat nur eines reichlich: Schnee. Keine Uhr, keine Anzeige, keine Ansage. Die Menschengruppen sind mir ein Graus, also schlage ich mich weiter nach hinten durch. Wo ich allein bin.

 

 

Deutsche Bahn. Für mich Symbol von Stress und Verspätung. Als ich 2013 zu meinem Freund Peter Würl (und dem Start auf den Camino Mozarabe) ins Allgäu fuhr, erreichte ich es nur auf Umwegen und mit ein- stündiger Verspätung. Der Arme musste entsprechend auf mich warten und die Zeit totschlagen, unser Verbindungsbus war natürlich auch weg… Tja, und dann war da noch die Hausbesichtigung in Sachsen – Anhalt, ab Hannover mit meiner „guten Fee“. Sie stieg auf dem Rückweg dort noch wohlbehalten aus, wäh- rend mein Zug Minuten später wegen einer brennenden Böschung angehalten wurde…

Wo es nun gerade brennt weiß ich nicht, auf jeden Fall rollt mein Zug mit bereits zwanzigminütiger Ver- spätung im Bahnhof der Seehafenstadt ein. Das lässt ahnen, wie es weitergehen wird. Ich rechne: Zwanzig Minuten binnen einer Strecke von dreißig Kilometern, wenn man das hochrechnet auf… Wenigstens finde ich einen Platz allein in einer Bank. Erleichterung. Einen Menschen neben mir, quasi Körper an Körper, den könnte ich in dieser Situation nur schwer ertragen.

Mobile Telefone läuten. Ringsum laute Stimmen. Die sich über was unterhalten? Z.B. schnittfesten Käse, welche Marke da zu empfehlen ist. Darüber kann man eine Viertelstunde reden, in einer Lautstärke, die das gesamte Umfeld unterhält. Anschließend folgt Büroklatsch. Vor mir ist das ostfriesische Boßeln Gesprächs-thema, hinter mir zuerst Autos, dann Motorräder. Ich will nicht zuhören, es nervt und belästigt mich. As- perger hassen solche Geräuschkulissen. Weil sie ihnen aufgezwungen werden, sie ihnen nicht entkommen können. Sie hören alles gleichzeitig, verarbeiten und durchdenken diese Botschaften. Was sie natürlich überfordert.

Früher hätte ich mich unwohl gefühlt, irritiert, wären Fluchtgedanken die Folge gewesen. Der Wunsch ent- standen nach Stille, allein zu sein. Das ist jetzt nicht anders. Aber heute kenne ich die Ursache dafür, das Schlüsselwort. In diesem Fall hilft es mir, soweit das möglich ist. Mein MP3 – Player wäre jetzt gut. Aber ich habe ihn nicht bei mir. Weil er noch mit den Songs von 2009 bespielt ist. Die hätte ich nun wahrlich nicht mehr hören wollen. Also konzentriere ich mich auf die ausgedruckten Zwischenhalte meiner Liste mit Uhr- zeitangabe. Starre darauf, wie auf ein Todesurteil. Was es in diesem Fall nicht sein soll. Eher gerade das Ge- genteil davon!

Erfreut stelle ich fest, dass der Interregio auf den freien Strecken regelrecht „heizt“ und offenbar versucht, die Verspätung aufzuholen. Mit nur zwei Minuten Verspätung rollen wir in das Gleisgewirr der Großstadt ein. Ich stürze vom Bahnsteig, strebe jenem zu, auf dem der Gegenzug eingerollt sein müsste. Doch er ist leer. Also zurück, gen Ausgang „City“. Mein Smartphone meldet sich und verstummt, bis ich es endlich in der Hand habe. Wie nehme ich ein Gespräch an? Zuletzt habe ich’s 2013 getan. Alles habe ich bedacht, das nicht. Und jetzt? Läutet es erneut. Wo ist die Lesebrille? Was muss / soll ich jetzt? Es klappt. Die Stimme ist kaum zu verstehen, im Lärm: „Ich stehe bei Gleis 5!“ Habe ich ihn nicht erkannt, bin vorbeigegangen?

 

Ich renne zurück, sehe ihn jetzt sofort, stürze mich in die ausgestreckten Arme.

Des hübschen, großen, lächelnden Mannes mit der markanten schwarzen Brille…

 

 

 

 

Die Liebe bleibt, wenn alles geht...