Gestern fällt am späten Nachmittag ein Brief in den Kasten - durch Zufall höre ich das Fahrrad der Postzu- stellerin vor dem Haus. Als ich die Klappe öffne und die Schrift auf dem Briefumschlag erkenne, da weine ich schon. Was werde ich gleich lesen? Zuerst fällt mir ein Farbfoto in die Hände. Oh, wie schön ist das! En- kel und Tochter ganz aktuell und in Farbe. Mit zitternden Händen halte ich es. Was werden sie mir schrei- ben? Warum fürchte ich mich davor? Warum habe ich immer noch Angst? Hat sie sich von meiner (vorge-burtlichen) Kindheit durch mein ganzes Leben gezogen?

Meine Befürchtungen sind unnötig! Mir wird der Rücken gestärkt, Respekt gezollt für mein Verhalten. Doch irgendetwas kann nicht stimmen. Wann wurden die Zeilen geschrieben? Kann das sein? Ach ja, Poststreik! Bisher war er nicht relevant für mich, aber jetzt schon. Was ich lese hätte ich vor einer Woche noch weitaus besser brauchen können - vielleicht wäre dann mein Absturz etwas weniger tief ausgefallen. Doch was ge- schehen ist vermag niemand mehr ungeschehen zu machen. Es gilt nur, mir zu bestätigen, dass meine Zweifel berechtigt waren. Die Härte. Der Selbstschutz. Die gelesenen Worte tun mir gut. Legen sich wie ei- ne Heilsalbe auf mein verwundetes Herz.

Trotzdem ist die Nacht gruselig. Ich wache auf von Schmerzen. Im linken Brustbereich. Mit einem Herzen, das so rasch schlägt wie der Flügel eines Kolibris. Den Stichen im oberen Rücken bei jedem Atemzug, dem Krampf im linken Oberschenkel und der rechten Wade. Dem schmerzenden Magen und den Nieren, die sich zusammenpressen, als habe ein Schraubstock sie in seinen bitteren Zwang genommen.

Ein neuer Tag. Werkstatt. Kurz. Planen. Sägen. Leimen. Einspannen. Zwei Objekte werden bald trotz allem fertig sein. Wozu? Weshalb? Wofür? Was macht überhaupt noch Sinn? Warum setze ich noch immer stetig fort, was mich schon vor fast sechs Jahrzehnten getröstet hat? 

 

 

Die geliebte Großmutter aus Ostberlin ist zu Besuch, kein liebevoller Mensch, niemand, der mich tröstend in die Arme nimmt. Dazu war ihr eigenes Leben viel zu schwer. Sie hat mehrere ihrer Kinder nach dem Tod gewaschen,ihnen die Sonntagskleider angezogen, sie auf dem ratternenden, hölzernen Leiterwagen mit ih- rem Mann zum Friedhof gekarrt. Es waren die Söhne. Und ich bin "nur" ein Mädchen. Davon hatte sie ge- nug. Mein Vater und sie sind sich einig in diesem Punkt...

Ich bin offiziell das dreizehnte Enkelkind. Eine Unglückszahl. Sagt sie auch. Tröstet mich aber mit: "Das stimmt ja nicht, Du bist eigentlich Nr.16 oder 17, das weiß ich nicht mehr so genau, ich hab' irgendwann nicht mehr mitgezählt..." Erst viel später erfahre ich, dass mehrere meiner Cousinen und Cousins "wegge-geben" (oder genommen?) wurden. Verstehe ich etwas davon? Nein. Aber immerhin, dass sie der einzige Mensch ist, der mit mir auf dem Balkon sitzt. Jenem teuflischen Ort, den meine Mutter als "mein Zimmer" erkoren hat. Wo man mich berechtigterweise vor allem nächtens "abkippen" kann. Das nervende, da hus- tende Kind...

Wenn wir in Berlin sind hält mich die Lieblingstante auf dem Schoß. Sie raucht mit Zigarettenspitze, trinkt abends Schnäpse, ist stets in auffallende Kleider und Pelzkragen gehüllt, erzählt von einer Welt, die mir völ- lig fremd ist und nimmt mich mit in ihre Wohnung mit den Kindern (schon Enkeln), die abends verteilt in vielen Betten zu- schauen, wie sie an ihrer Nähmaschine fleißig Kleidung nach eigenen Entwürfen näht. Sie hat den Beruf der Schneiderin erlernt, heute würde sie sicher als "Designerin" bezeichnet werden...

 

Doch zur Zeit der DDR ist sie nur eine Mutter von vielen Kindern und asoziales Subjekt. Was ihr am Ende eine Einweisung in eine Heilanstalt einbringt, weil ihre ältesten Kinder scharf auf ihre Wohnung sind. Sie zerbricht daran, gibt sich auf. Schließlich ist sie nicht einmal mehr in der Lage ihren Namen zu schreiben. Darüber lachen die jüngeren Geschwister, unter anderem meine Mutter. Aber sie war eine kluge, starke Frau. Kreativ. Ihrer Zeit weit voraus. Sie starb an einer "Lungenentzündung". Schon zu Hitlers Zeiten gern genommen als Todesursache. Worin sie meinem Großvater folgte...

Manchmal sitze ich noch immer mit ihnen am Tisch, auf dem wie damals Bauklötze liegen. Mein Bär dabei. Der alle meine kindlichen Geheimnisse kennt. Ich zeichne, wie immer schon. Meine Oma sagt, dass ich im- mer auf die Sterne schauen soll, wenn ich draußen schlafe. Weil sie auf einem von ihnen auf mich warten wird, wenn einst ihre Zeit gekommen ist. Man kann das nicht verstehen, wenn man erst fünf Jahre alt ist. Man begreift es erst viel später...

Längst habe ich selbst einen Enkel. Nur ihn, the one and only. Aber das macht nichts aus, die Anzahl ist nicht relevant. Es ist die Liebe, welche zählt! Ich habe ihm versprochen ein Familienalbum zusammenzu- stellen. Mit jenem Teil seiner Familie, von dem er bisher viel zu wenig weiß. Wird er erschrecken? Neu ord- nen? Begreifen? Wieviel Zeit bleibt mir dafür? Er steht nun da zwischen Baum und Borke, ist wieder jener Mensch, der die Unvernunft Erwachsener (eines Erwachsenen?) auszubaden hat. Der Onkel ist sein großes Vorbild (und wird es hoffentlich bleiben), das freut mich für meinen Sohn. Aber auf der anderen Seite ste- hen Mutter und Oma. Wieder geht ein tiefer Riss durch die Familie. Nun noch breiter als je zuvor...

 

 

Immer vorwärts Schritt um Schritt, es gibt keinen Weg zurück.

Und was jetzt ist, wird nie mehr ungescheh'n.

Ein Schritt zuviel im Zorn gesagt, ein Schritt zu weit nach vorn gewagt, schon ist es vorbei.

 

Was auch immer jetzt getan, was ich gesagt hab' ist gesagt

und was wie ewig schien ist schon Vergangenheit....

Immer vorwärts, Schritt um Schritt, es gibt keinen Weg zurück,

und was jetzt ist, das wird nie mehr ungescheh'n...

 

Denn wie viel von dem, was ich heute weiß,

hätt' ich lieber nie geseh'n....