Nach den frostigen Tagen mit den ersten Minustemperaturen halten dichter Nebel und Dauer- regen die Küste fest im Griff, dazu sind Sturmböen angesagt. Schon länger verlasse ich das Haus nur noch einmal wöchentlich, zum Lebensmitteleinkauf. Und das auch erst am Nachmit- tag, wenn die Dunkelheit sich über die Seehafenstadt zu legen beginnt. Wovor verkrieche ich mich zwischen meinen kalten Wänden? Vielleicht vor den Menschen. Dem Weihnachtsmarkt. Der Sinnlosigkeit. Vielleicht vor der Begegnung mit mir selbst? Ich weiß es nicht.

Den Weg durch die kleine Einkaufsstraße wähle ich, in der noch im letzten Jahr so oft ein Mann saß, von dem ich viel gelernt habe. Obwohl wir nur ein einziges Mal miteinander sprachen. We- nig und leise zudem. Trotzdem vermisse ich seine Anwesenheit. Wohin er wohl gegangen ist, mit dem blauen Rucksack auf dem Rücken, der mich mehrfach bis Santiago begleitete? Sie sind nun wieder unterwegs. Beide. Und vielleicht ist das ihre Bestimmung.

Am Markt erregt ein klapperndes Geräusch meine Aufmerksamkeit. Eine Frau geht da, etwas jünger als ich. Auch sehr warm eingemummelt. Einen Einkaufsshopper rolt sie mit der einen Hand hinter sich her. In der rechten hält sie einen langen Taststab mit einer Kugel am Ende, den sie gleichmäßig von rechts nach links und zurück schwenkt. Er soll sie vor Gefahren war- nen und wenn er anschlägt weicht die Frau vorsichtig aus. Sie ist blind.

Sofort bin ich voller Bewunderung. Bei irgendeiner Fortbildung gab es den klassischen Test. Eine Hälfte der Gruppe schließt fest die Augen, wird von den Mitgliedern der anderen Hälfte durchs Haus geführt. Ich führe. Klar. Warne vor: Gleich kommt eine Stufe, der Gang biegt nun nach links ab, noch drei Schritte, dann..." Das klappt wunderbar. Ich habe früh gelernt Verant-wortung zu übernehmen. Und hinterfrage es schon lange nicht mehr. Meine Augen nach dem Wechsel zu schließen hingegen, das funktioniert nicht. So sehr ich mich auch anstrenge. So ge- ben wir auf. Ein Asperger der die Kontrolle komplett an einen Fremden abgibt? Das kann nicht klappen. Heute weiß ich es.

Taub zu sein wäre schlimm, mir wäre vieles genommen. Aber daran würde ich mich gewöhnen (müssen). Blindheit würde für mich das Ende bedeuten. Permanente Hilflosigkeit. Nein, damit käme ich nicht zurecht. Die alte Frau fällt mir ein, die einst als Patientin in mein Leben kam. Ich übernahm sie von einer Mitarbeiterin, die dort nicht klar kam. So entschied ich selbst zu schau- en, was dort anlag. Gewarnt worden war ich: "Die Patientin ist blind und wenn du die Tür der alten Hütte zuschlägst, dann lieber vorsichtig, sonst fällt die ganze Butze in sich zusammen!"

Lange Liste, wer ganz genau wann und wo anzufahren ist. Ob es einen Schlüssel braucht, ob ge- klingelt wird, wo man sich zuerst bei den Kindern melden muss, wer pflegeaufwendig ist, da sterbenskrank, gelähmt, schizophren, dement, aggressiv, oder mit einer Mischung aus allem gesegnet. Manchmal komme ich von einem Horror in den nächsten. Pflege im Minutentakt. Aber immer mit einem Lächeln, viel Geduld, Ermunterungen und Konzentration. Auf eben ge- rade jenen Ort, an dem ich bin. Auf eben gerade jenen Menschen, der mich braucht und ein Recht auf optimale Betreuung hat. 

Zur Weihnachtszeit sind alle naturgemäß etwas bedrückter, manchmal auch trauriger. Was mir selbst nicht anders geht, seit die Kinder fortgegangen sind und ich allein in meinem großen, kalten Haus wohne. Meine Arbeitszeiten sind immer mehr gewachsen, ohne dass es mir recht auffiel. Als ich an jenem Abend an dem winzigen Häuschen läutete, da hatte ich am Morgen um 5.50 Uhr meine erste Patientin aufgesucht. War seitdem mit dem Auto kreuz und quer durch die Stadt unterwegs. Es wurde hell und wieder dunkel. Schnell ein Brot während der Fahrt, ein Kaffee aus der Thermoskanne. Oft Tee bei Patienten. Und Kekse. Gerade im Advent.

Schlurfende Schritte, die Tür öffnet sich langsam, in einem stockdunklen Flur eine kleine kaum zu erkennende Gestalt. Ich sage wer ich bin, dass ich nun an jedem Tag kommen werde. Kei- nerlei Reaktion. Auch eine Wiederholung meiner Worte bringt zunächst keinen Erfolg. Dann brummelt eine Stimme so etwas wie:"Kumm rin!" Die Frau humpelt los, ich schließe (sanft!) die Haustür und stürze hinterher, mit einer Hand an der Wand. Hätte ich nur meine Taschen- lampe mitgenommen... Ok, morgen!

Erleichtert stelle ich fest, dass wir in einer Wohnstube landen, in der ein kleiner Ofen mit Sichtfenster brennt, was einen Lichtschein abgibt. Auf der Fensterbank entdecke ich unsere Dokumappe. Erkläre was ich tue, weil mir klar ist, dass die blinde alte Frau sich nun irgendje-manden in ihr bescheidenes Heim geholt hat, der wer weiß was dort tun könnte. Wieviel Ver- trauen muss sie aufbringen?! Also erkläre ich jeden Handschlag. Ohne Reaktion. Die Frau sitzt in einem uralten Lehnstuhl und schaut ins Nichts.

Als ich in der Mappe nachlese, wird mir klar warum. Die Patientin ist nicht nur blind, sondern auch fast taub. Es dreht mir die Seele im Leib um. Das faltige Gesicht zeugt von einem entbeh-rungsreichen Leben. Und strahlt doch Güte aus. Sofort erinnere ich mich an meine Großmut- ter, die wohl im gleichen Alter war, als ich sie zuletzt sah. Über achtzig Jahre alt. Ich hocke mich neben den Stuhl, lege ganz zart meine Hand auf die abgearbeitete, die auf der Stuhllehne ruht. Und sofort nach mir greift, als wolle sie ertasten, was diese über den späten Besuch zu erzählen vermöge.

Mein Tonfall ist nun ziemlich laut, für meine Ohren. Aber hilft weiter. Die Frau nicht viel. Ja, es wäre gut, etwas zu essen. Ich erkläre nachzuschauen. Wo, das ist klar. Es gibt nur einen uralten Küchenschrank. Dort findet sich auch alles. Brot, Käse, Butter. Letztere ist unten, der Teller oben. Also verkehrt herum. Wie ist diese Frau bisher zurecht gekommen? Unfassbar!

In den Monaten danach lernen wir uns kennen. Soweit das möglich ist. Das Haus besteht aus der Küche mit dem Ofen und einer kleinen Schlafkammer. Zusammen mit dem Flur mögen es 30 qm sein. Hinten im Hof befindet sich der Abort. Das einzige Waschbecken ist für alles ge- dacht. Mit kaltem Wasser. Ab und zu hängt ein wenig Wäsche auf der Leine über dem Ofen, schief und krumm, wenn da mal etwas herabfällt, auf die Herdplatte... Nicht auszudenken...

Das Feuerholz ist im Hof gestapelt. Mit einem Blecheimer hinkt Grete hinaus, um ein wenig Nachschub zu holen. Als sie die Ofentür geöffnet und dahinter mit einem Eisen gescharrt hat, springt etwas Glut heraus. Verglimmt auf dem Holzboden. Ich bin sprachlos. Neue Scheite ent- flammen das Feuer kräftig, vielleicht reicht das ein paar Stunden. Dann beginnt alles neu. Wie kann ein Mensch so leben? Es gibt nicht einmal ein Radio. Keine Lampe. Wozu auch? Aber die Hände der alten Frau sind warm. Längst haben sie mein Gesicht ertastet. Und tun es bei jedem Abschied. Als wollten sie mir Wärme mitgehen. Da ich wieder in die Kälte hinausgehe.

Im Sommer danach kam ich mit Nierenversagen in die Klinik. "Burnout" lautete die Zusatzdi-agnose. Die nicht stimmte, wie ich heute weiß. Ganz anderes war mir buchstäblich "an die Nie- ren" gegangen. Meine Patienten sah ich nie wieder. Mein Beruf war mir genommen. "Nie mehr eine Tätigkeit im sozialen Bereich!" So stand es in meiner Beurteilung. Von vielem, was darauf- hin folgte, habe ich schon geschrieben. Es begann eine jahrelange Odyssee, die mich am Ende zurück zum Ausgangsort führte. Nun war ich mit der Vergangenheit konfrontiert. Besuchte Friedhöfe, schaute nach Anschriften. Das kleine alte Häuschen gab es nicht mehr. Die ganze Zeile war zusammengeschoben worden. Neubauten. Von den Alten wußte niemand etwas zu sagen.

Jetzt lande ich beim Discounter. Alles umgeräumt. Absichtlich. Vor Weihnachten hebt man die Preise an, das kenne ich nun seit zwei Jahren und bin sauer, warum hält man Kunden für blöd? Andererseits, welche Alternative bliebe denn? "Mein" Kräuterquark wechselt ständig seinen Stellplatz, das ist arg für einen Asperger. In diesem Trubel und der Helligkeit von Neonröhren ausgesetzt, da denke ich an permanente Flucht. Vergessen will ich aber auch nichts, sonst wür- de es mir eine Woche lang fehlen.

Ein bekanntes Geräusch weckt meine Aufmerksamkeit. Die blinde Frau ist hinter mir. Mit dem Stock und dazu einem Einkaufswagen, in dem sie hochkant den Trolley verstaut hat. Als ich ge- rade nachhaken möchte, ob ich etwas helfen könnte, da biegt sie ab. In den Gang mit all' den Non-Food-Artikeln. Ich kann hören, wie sie fragt, wo wohl dieses oder jenes steht. Es wird ge- funden. Neuer Gang, andere Leute, wieder nette Antworten. Ich freue mich sehr, dass die Men- schen so hilfsbereit sind. Aber noch mehr über die fröhliche Stimme, die alle paar Minuten ruft: "Dankeschön, vielen herzlichen Dank!"

Wie oft am Ende? Welche Überwindung mag es gekostet haben, lernen zu müssen, dass man auf diese Hilfe angewiesen ist! Dankbarkeit zeigen muss. Ob man will oder nicht. Aber man hört davon nichts heraus. Es klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Für alle Beteiligten. Plötzlich schäme ich mich ungeheuer, weil ich so ungeduldig war. Nur, weil ich in dem verräumten Kram suchen muss. Es mich Zeit kostet, die ich massenhaft zur Verfügung habe. Mehr und mehr wird mir klar, wie leicht mein Leben ist. Da ich so vieles problemlos kann. Ohne jemanden an- sprechen zu müssen. Ich nehme mir vor, das so schnell nicht zu vergessen!

 

Als ich meinen Rucksack schultere, kommt tastet die blinde Frau an mir vorbei.

Ich halte die Ausgangstür auf, sage: "Einfach geradeaus, dann passt es schon."

"Dankeschön, vielen Dank!" Ich lächle, wünsche einen schönen Abend.

Wir gehen hinaus in die Dunkelheit. Die für sie nie vergeht, aber für mich...

 

 

 

Wenn die Tage vergehen,

wirst du das Licht wieder sehen

und deine Welt sich wieder drehen...