In dem privaten Krieg der um mich her tobt, ist die Schule meine einzige Konstante. Dort ist es für mich zwar auch schrecklich. Aber immerhin auf eine berechenbare Art und Weise. Meine Leistungen sind top, daran ist nicht zu rütteln. Was mir Anerkennung einbringt, etwas, was ich von daheim nicht kenne. Nie- mand ahnt, welch' hohen Preis ich insgeheim dafür zahle...

Mein Vater hat erst nach der Trennung erkannt, wie teuer ihn das kommt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat Unterhalt zu leisten und eigentlich lohnt es sich für ihn überhaupt nicht mehr zu arbeiten. Viele Män- ner werfen in dieser Situation die Brocken hin. Er nicht. Das passt nicht zu ihm. Und würde sein Leben gänzlich zerstören. Also wählt er den Weg, den er mit dreizehn Jahren eingeschlagen hat. Und geht zur Arbeit. 

Doch in ihm brodelt es. Freunde und Kollegen hetzen gegen die "Alte", die ihn finanziell so ausnimmt, ganz ohne Gegenleistung. Aus Wut wird Hass. Der noch nie eine gute Grundlage für irgendetwas war. Schon gar nicht in Verbindung mit Alkohol. Erst recht nicht für jemanden, der sonst nie getrunken hat. Doch dies ist der Rat: "Trink' Dir einen Rausch an und hau' dieses Weib tot, da gibt's milde Richter, vielleicht sogar einen Freispruch!"

Wegen der Enge der Zimmer war es damals in den "Wiederaufbauten" Mode, dass (wer handwerklich be- gabt war) die Zimmertüren umbaute zur Schiebefunktion. Und genau so war es bei uns. Damit kann man sie nicht mehr einrasten, oder gar abschließen. Was nie eine Rolle gespielt hat. Nun aber werden beider- seits Kellerbeschläge montiert mit Hängeschloss. Nicht unbedingt einbruchssicher, aber ein Schutz immer- hin. Natürlich würde das nicht halten, wenn man mit Gewalt an einer Tür risse.

Mein Vater kommt von der Nachtschicht (offenbar mit anschließendem Kneipenbesuch), als diese Situation einzutreten droht. Er schlägt lärmend die Wohnungstür auf, randaliert im Flur, donnert seine Tür auf, schreit, dass er jetzt in den Keller gehen, ein Beil holen und die ganze Sache endlich zu einem Ende bringen würde. Dann torkelt er hinaus und die Treppe hinab. Meine Mutter und ich sitzen schreckensstarr und mit Todesangst im Ehebett. Dort muss ich jetzt schlafen, da meine ursprüngliche Liege meinem Papa zugespro- chen wurde und nun in seinem Zimmer steht.

Wir greifen nach irgendwelcher Kleidung, rennen aus der Wohnung. Nach oben, auf den Dachboden. Wohin sollten wir auch sonst. Dort verkriechen wir uns hinter alten Kommoden und Matratzen, warten zitternd auf den Morgen. Es geschieht nichts, doch wir stehen unter Schock. Meine Mutter flüchtet zu einer Nachbarin, ich in die Schule. Ohne Tasche, Stifte, Bücher. Bekomme einen Eintrag ins Klassenbuch deswegen, einen "Tadel". Weil ich schwieg, über die Ursache dafür. Was hätte ich denn auch sagen sollen? "Mein Vater hat gedroht uns umzubringen!" Das ging niemanden etwas an...

Irgendwie hab' ich den Tag überstanden. Vor dem Mietshaus wartet meine Mutter, zerrt mich zur Straßen- bahn. Wortlos. Wir fahren in die Dortmunder Innenstadt. Die Schritte lenken sich in das mir verhasste Vier- tel hinter dem Bahnhof. Damit ist irgendetwas, ich komme nur nicht an die Erinnerungsschublade dafür heran. Es ist eine der wenigen, die ich nicht zu öffnen vermag. Jedenfalls hatte ich noch als erwachsene Frau (längst Mutter) Angst vor dem, was hinter der Eisenbahnbrücke war. Dort muss irgendetwas passiert sein, als ich noch ganz klein war. Das so schrecklich war, dass ich es verdränge, mit aller Kraft meines Be- wusstseins.

In dieser Situation jedenfalls steuert meine Mutter eine der vielen heruntergekommenen Kneipen dort an. Eine grell geschminkte ältere Frau raucht Zigarre hinter dem Tresen und mustert uns kritisch. Sie nimmt uns mit hinter einen Vorhang. Es wird etwas gemurmelt und Geldscheine wechseln ihre Besitzerin. Minuten später bringt jemand eine Pistole. Ich habe noch nie eine Waffe aus der Nähe gesehen. Nur meine aus Plas- tik, von den Cowboyspielen. Nun wird mir erklärt, wie man die Patronen lädt, entsichert, zielt, abdrückt. Warum MIR?

Wir fahren zurück. Laufen in den Wald zwischen den Getreidefeldern. Dort soll ich auf einen Baum schie- ßen. Was ich als Abenteuer ansehe! Natürlich verfehle ich das Gehölz, lasse die Waffe fallen, erschrocken über den Rückschlag. Mit zwei Kinderhänden geht es besser. Und mit weniger Abstand. Der dritte Schuss trifft. Was meine Mutter befriedigt feststellt. Ab sofort wechsle ich auf die Bettseite an der Tür. Quasi als lebendes Schutzschild. Die Pistole liegt entsichert auf dem Nachttisch. Würde ich auf meinen Vater schie- ßen? Ich weiß es nicht. Bin voller Angst. Ich möchte Eltern. Menschen, die mich beschützen. Und liebha- ben. Etwas, was jedes Kind sich wünscht. Ich aber nie hatte. 

Vor lauter Angst erzähle ich meinem Vater von der Pistole. Weil ich denke, dass er dann keinen Angriff ris- kieren wird. Er hört mir desinteressiert zu, antwortet, dass er sowieso bald ausziehen wird, weil er eine Frau kennengelernt hat. Mit Söhnen. Endlich wird er Jungen um sich haben, was er sich immer so sehn- lichst gewünscht hat. Ich bin oft zum Werkstor gegangen, um ihn abzuholen, jetzt darf ich das nicht mehr. Ich soll nicht mehr kommen. Nun, da er bald eine neue Familie hat.

Ich gehe trotzdem hin, einfach nur, weil ich ihn sehen möchte. Verstecke mich zwischen den parkenden Au- tos der HOESCH - Arbeiter. Eines Tages stehen zwei Jungs unter den Wartenden. Und hüpfen an meinem Vater hoch, als er auf die Straße tritt. Auf einer Unterkonstruktion trägt er eine blitzende Dampfmaschine. So eine, wie ich sie mir schon seit vielen Jahren gewünscht habe. Zu jedem Weihnachtsfest und an jedem Geburtstag. Zu aufwendig, nicht machbar, das hat er immer gesagt. Nun ging es doch. Aber nicht für mich. Ich laufe in den Wald und weine stundenlang, verkrochen im Unterholz.

Eines Tages steht ein Transporter vor der Haustür. Männer lärmen. Während sie das Zimmer meines Vaters ausräumen. Er zieht aus, ohne sich von mir zu verabschieden, mir eine Anschrift zu hinterlassen. Ich ahne nicht, welche bitteren Folgen das haben wird. Denn nun ist der Werksangehörige aus der Wohnung ausge-zogen. Und meine Mutter zahlt keine Miete. In der festen Überzeugung, das sei nicht ihre Aufgabe, dies solle mein Vater tun, wie bisher.

Was daraus entsteht ist klar. Die Mahnbriefe der Wohnungs - AG stapeln sich in der Küche. Ungeöffnet. Bis eines Tages ein Beauftragter vor der Wohnungstür steht. Der mir ein Schreiben übergibt, da meine Mutter wieder einmal in ihrer Valium-Welt versunken ist. Er versucht sie wach zu bekommen, was sich als unmög- lich erweist. Er erklärt mir, dass nun noch ganze 48 Stunden bleiben, bis ein Räumungs - LKW vor der Tür stehen, unsere Sachen aufladen und zur sogenannten "Remberg-Insel" dem verrufenen Bereich der Ob- dachlosen verfrachten wird. Das soll ich meiner Mutter klarmachen., wenn sie ansprechbar ist.

Sie schreit, heult. Und schluckt ihre bunten Smarties. Sagt, ich solle zu "Herrn Hoesch" gehen und mit ihm sprechen. Er werde sicher kein Kind auf die Straße setzen! Also nehme ich allen Mut zusammen und gehe am nächsten Tag zum Tor, an dem ich früher so oft meinen Vater abgeholt habe. Der Pförtner fragt streng nach meinem Begehren. Worauf ich antworte, dass ich ganz dringend Herrn Hoesch sprechen muss! Hat er geschmunzelt? Ich erinnere es nicht. Jedenfalls telefoniert er. Dann soll ich auf einer Holzbank warten. Bis mich jemand abholt.

Unzählige Flure und Räume werden durchschritten, Erklärungen abgegeben. Bis ich vor einem mächtigen Schreibtisch stehe. Hinter dem ein Mann sitzt, der ausschaut wie Bundeskanzler Ludwig Ehrhardt. Schüch- tern frage ich, ob ich richtig bin. Er lächelt und ist wirklich sehr freundlich. Wir setzen uns auf die Polster-sessel am Fenster und ich soll erzählen, warum ich gekommen bin. "Wie alt bist Du denn?" Was der alles wissen will?! "Zwölf Jahre!" Er fragt noch nach der Schule, den Eltern und anderem. Sicher ist es eine Situ- ation, die er so noch nicht erlebt hat.

Am Ende erzähle ich von der Wohnung. Dass ein LKW kommen wird. Und, dass meine Mama krank ist und immer schläft. Ich bekomme Kakao und der Mann im dunklen Anzug telefoniert. Lange und mehrmals. Dann gibt er mir einen Zettel. "Du bist ein sehr kluges und starkes Mädchen, darum hör`jetzt gut zu. Dies ist die Adresse einer Wohnung, die ihr bekommen könnt. Morgen schicke ich einen Fahrer, für die Woh- nungsbesichtigung. Deine Mama muss einen Vertrag unterschreiben, das ist der einzige Ausweg, den ich anbieten kann. Kannst Du ihr das klarmachen? Gott schütze Dich!"

 

Am Folgetag holt uns ein schwerer Benz ab. Die Nachbarn schauen hinter den Gardinen.

Auch im neuen Mietshaus. Der Vermieter wartet dort mit Vertrag und Füller.

Es gibt einen Balkon. Mit Blick auf das städtische Waisenhaus.

Ich ahne nicht, dass meine Mutter mich genau dort bald einfach abgeben wird...

 

 

Mama, ich wollte doch nur bei Dir sein - warum ließt Du mich allein?