(Foto:Tobbe Malm, von dem auch die schlichten, aber beeindruckenden Schrauben-Skulpturen stammen)

 

 

Es waren schwere und belastende Tage nach meinem Geburtstag. Warum immer erst Himmel und danach Hölle, fast zeitgleich? Zeit muss vergehen, Abstand gewonnen werden und ich kämpfe um jeden Tag und jede Nacht, mich zugleich fragend, was das alles soll. Hier zu sein. Zu bauen. Und überhaupt. In vier Mo- naten wird es im Haus wieder kalt sein. Wieviel Tage sind das, bevor mich die Dunkelheit wieder einholt? Das ist kein Leben! Was überhaupt ist davon übriggeblieben? Von mir? Dem Menschen, der ich vor jenem verhängnisvollen 24.April 2013 war??

So ziemlich alles habe ich überlegt seit Pfingsten. Die ganze Latte. Von 0 bis 10. Alles ist möglich und nichts. Alles macht Sinn und doch keinen. Der gestrige Tag war der Gipfel. Alles dessen, was ich mit einem meiner Kids schon erlebt habe im Laufe der Zeit. Ich musste nach diesen angespannten Tagen eine Ent- scheidung treffen. Und ganz gleich wie sie ausfallen würde, hätte ich an den Folgen zu tragen. Es war eine Qual. Aber ich habe mich dann für MICH entschieden, die Selbstachtung vor mir. Gehofft, dass da ein ge- liebter Mensch versteht. Nachdenkt. Mit mir nach einer Lösung sucht. DANN hätte ich geholfen, versucht Berge zu versetzen. Aber die Antwort bestand aus zwei Worten, mit denen mich noch nie ein Mensch bedacht hat! Das hätte ich auch nicht erwartet. Schon gar nicht von einem meiner Kinder...

Die Nacht bleibt schlaflos bis auf Minuten. Erst gegen Morgen nicke ich ein. Träume von einer Villa mit ele- ganten Möbeln. Meine Mutter sieht aus wie damals, jedes Haar wo's hin muss, Kostüm auf Figur geschnit- ten, Wildlederschuhe an den Füßen. Sie diskutiert mit einer Schneiderin über ein Kleid, das angefertigt wer- den soll. Mein Gott, wie dumm und oberflächlich kommt mir das vor! Denn überall im Haus, wo immer Platz ist hat man scheinbar Flüchtlinge untergebracht. Farbige dazu. Meine Mutter schreit herum, das "Ne- gerpack" solle aus dem Haus getrieben werden...

Ich fliehe auch, die noble Rundtreppe hinunter mit dem aufwendigen Geländer. Menschen, wohin man schaut. Sie bitten um Decken, Wasser, Kissen. Ich verteile, decke zu, tröste, trage ein Kind auf dem Arm, das allein ist. Spreche problemlos in mehreren Sprachen, auch das mir so verhasste Französisch (komisch, das in Träumen immer solche Hürden fallen). Im letzten Zimmer liegt eine alte Frau, sie macht auf mich den Eindruck, dass sie im Sterben liegt.

Auf dem Bett befindet sich ein Buch und sie drückt es mir mit Gewalt in die Hand. Unbedingt soll ich es aufschlagen, mir meine Zeichnungen ansehen. Tatsächlich, da sind viele von mir. Aber die Frau bleibt un- geduldig. "Nein, nein, nicht diese, weiterblättern!" Ganz hinten ist eine von da Vinci. Es ist jene mit den Flügeln. "Das ist nicht von mir!" Leider... Die Frau mobilisiert offenbar letzte Kräfte, richtet sich angestrengt auf: "Aber sie sind doch das Allerwichtigste: Die Flügel!" Und zeigt auf den majestätischen dunklen Holz- schrank  an der linken Wand. Ich tue ihr den Gefallen, gehe hin und öffne die knarrenden Türen, nehme vorsichtig heraus, was in der Dunkelheit liegt. Die alte Frau sinkt zurück.

Es war ein Klartraum. Als ich hochschrecke kann ich mich an jedes Bild, jedes Wort erinnern. Versuche den Sinn dahinter zu erkennen. Denn natürlich will uns unser Unterbewussein etwas damit sagen... Kein Krümel Kaffee oder Tee im Haus, also gibt es heißes Wasser. Na toll! Die Werkstatt ist vorerst geschlossen, ich ziehe mein Bett ab, wasche Wäsche, vor allem Fleece. Nur an warmen Tagen besteht die Hoffnung auf schnelle Trocknung. Ohne Waschmaschine geht es prima, aber das Zeug ist halt nur handgewrungen und nicht ge- schleudert, da hängt es tagelang nass herum. Bücher sortiere ich nochmal aus. Räume auf. Um mich abzu- lenken.

Alles ist so sinnlos irgendwie. Immer und immer und immer bin ich im selben Zimmer. Auf dem Schrank liegt der gut eingepackte "Osprey". Ob ich ihn mal herausnehme? Wo ist eigentlich mein grünes Zelt? So lange her, dass ich auf Tour war. Sollte ich es versuchen? Muss ja kein Trekking sein, zelten am Meer wär' auch fein. Kostet? Ich google. Aber wenn es regnet, was dann? Nicht witzig in so einem Mini.

Alternative? Städtetrip. Was wollte ich denn immer schon mal sehen? Havanna! Zu weit. Valetta! Zu teuer. Wohin fliegt Ryanair überhaupt ab Bremen? Aha. Hostalsuche. Die billigen Termine passen nicht überein. Es sei denn... Einige vollgeschriebene Zettel später könnte es klappen. Gerade eben so. Aber ich wage nicht zu buchen. Was wäre wenn ich ausgerechnet an einem der beiden Flugtage einen Migräneanfall bekomme?  Darüber hätte ich mir vor zwei Jahren noch keine Gedanken gemacht. Aber unter den jetzigen Umständen muss ich es. Lieber warten bis morgen mit der Entscheidung, alles noch mal durchdenken und -rechnen. Wenn es denn so sein soll, werden Platz im Flugzeug und Kämmerchen noch frei sein.

 

Was im Schrank lag?

Da Vincis Flügel. Was auch sonst?