Dreißig Stunden Migräne. Braucht niemand. Will man nicht. Aber sie sucht mich heim. Gibt mir das Gefühl einer zerschmet-terten Hirnschale, eines Auges, das mit glühendem Eisen ausge-brannt wird. Der Trigenimus pocht auf Stufe 10. Von 10. Der Schmerz im kaputten Bein wütet wie frisch nach der Fraktur. Das Herz pocht im Hals, tobt, reißt, schweigt, als wolle es stillstehen, versagen. Das passt nicht. Nicht jetzt! Nicht zu dieser Zeit. So unendlich vieles gilt es (noch) zu regeln...

 

In der Folgenacht bleibt der Schlaf aus. Logisch. Da ich zwar zu- tiefst erschöpft, aber nicht müde bin. Eher im Gegenteil. Ich wünschte, ich könnte aufstehen und etwas tun. Irgendetwas. Um nicht mehr liegen zu müssen. Aber das würde einen weiteren ver- lorenen Tag bedeuten. Also bleibe ich liegen. Mit offenen Augen an die Decke starrend. "Der Große" schläft ruhig neben mir, al- lerdings fast das gesamte Bett einnehmend und mit einem Bein schräg über mir ausgestreckt. Wenigstens schläft er ruhig, da- rüber bin ich froh. Gibt mir das doch die Chance, nicht fliehen zu müssen. Sondern mich in die warme Decke einzurollen. In der Hoffnung, dass ich nicht mehr frieren und der Schlaf kommen wird. Irgendwann...

 

Es ist aber anders. Warum vermag ich nicht zu sagen. Erinne- rungen steigen auf.. Wie sie es so noch nie zuvor taten. Vielleicht hatte ich so eine Art Schutzschild. Hatte es nicht für wichtig er- achtet. Weil ich eben nie wichtig war. Für jene Menschen, die mei- ne Eltern waren. Und meine Beschützer hätten sein müssen. Sol- len. Oder eben nicht. Jedenfalls waren sie es nicht. Sie haben mich allein gelassen. Wann immer ich sie gebraucht hätte. Für meinen Vater (war er es?) war ich die ungeliebte fünfte Tochter. Für meine Mutter "das Judenbalg". Nicht wert zu leben...

 

Ich bin gerade neun Jahre alt. Ein blasses, dünnes Kind. Das der Wind davonwehen könnte. So sagen es die Bauern in dem klei- nen Dorf Lichtel Nähe Rothenburg/Tauber in welches meine Mut- ter mit mir gezogen ist. Der Vater(?) ist im Ruhrgebiet geblieben, denn seine Arbeit ermöglicht die Wohnung im Süden Deutsch- lands. Kriegstraumatisiert hatten die Eltern nach einem Flucht- punkt gesucht und glaubten, ihn in diesem kleinen Ort gefunden zu haben, wo nie eine Bombe gefallen war...

 

Ich hatte keine Ahnung was mich erwarten würde. Und erhielt ein großes Geschenk. Wie hart war die Schule für mich im Ruhr- gebiet! Ich fürchtete mich an jedem neuen Tag hinzugehen. Stren- ge Lehrer mit hälzernem Zeigestab (gern für Schläge hergenom- men), große Klassen mit getrennten Religionen. In jeder Pause kommt es zu Schlägereien. Mit fünf Jahren eingeschult, voller Angst und ziemlich winzig bin ich ein willkommenes Opfer.  Jun- gen ziehen mich an den kurzen, geflochtenen Zöpfen, bringen mich zu Fall, indem sie sich auf meinen Ledertornister stützen. Verhöh- nen mich: "Gleich wirst du wieder von Oma oder Opa abgeholt (meine Eltern sind da Mitte vierzig)!"

 

Kein Lehrer hilft mir. Kinder sollen selber lernen sich zu wehren. So ist das Leben nun mal. Der Tag an dem ich ausraste, kommt tatsächlich. Als ich mal wieder gehänselt, bespuckt und nieder- gerungen werde. Ich wehre mich. Raste aus. Stürze mich auf den Haupttäter, werfe ihn nieder, prügele auf ihn ein. Und alle Wut aus mir heraus, die sich über Jahre Tag für Tag aufgestaut hat- te! Lehrer zerren mich von ihm herunter, ermahnen mich. Ein Mädchen tut so etwas nicht! Es benimmt sich gesittet! Wehrt sich mit fein gesetzten Worten. Besänftigt, hält sich zurück! Zum Rektor muss ich. Der mir noch einmal erklärt wie unmöglich ich mich verhalten hätte.  Und da ich Angst vor ihm habe, sage ich nichts. Will nur raus da. Weg.

 

Nun lebe ich in einem kleinen Dorf. Mit einigen Bauernhöfen, ei- ner Molkerei, einem winzigen Krämerladen. Vielen Feldern. Aus- gedehntem Wald. Und schier unendlicher Freiheit. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Kühe aus der Nähe. Pferde. Hüh- ner. Schweine. Und verbringe unendlich viel Zeit in den Ställen. Bekomme auf dem benachbarten Bauernhof ein Kalb geschenkt. Dem ich jeden Tag mehrmals die Flasche gebe. Das ich stun- denlang striegele. Auf dessen Bauch ich mit dem Kopf liege und im Stroh schlafe. Weil es mir wie ein warmer, zärtlicher und vertrauter Freund erscheint...

 

Die Schule ist nun ein einziger großer Spaß. Niemand tut mir mehr etwas an. In meiner Klasse bin ich die einzige Schülerin. Und auch die anderen Klassen sitzen mit mir in einem Raum. Wir bekommen gemeinsame Aufgaben (z.B. Getreideähren zeichnen), aber auch getrennte. Erfolgserlebnisse. Endlich. Zu- wendung, spielen mit Kameraden, herumalbern. Die Illusion, ein Kind unter vielen zu sein. Wie die anderen auch.

 

Seit ein großer Hund mich angefallen (und meine Mutter mich vor ihm nicht beschützt hatte) fürchtete ich mich barbarisch vor diesen Tieren. Im Dorf gibt es viele Hunde die angekettet sind. Auch auf dem benachbarten Hof. Dort lebt ein riesiger Schäfer- hund mit wuscheligem Fell, der wie ein Wolf aussieht. Der Bauer warnt mich vor ihm. Niemals solle ich in den Kreis der Kette gehen. Das Tier habe sich schon losgerissen und Kinder angefal- len, Hühner zu Tode gebissen. Also habe ich gehörigen Respekt. Aber auch Mitleid. Mit dem Tier, das ständig festgezurrt ist. Oft kein Wasser hat. Und schon gar nicht Liebe bekommt. Eines Ta- ges ziehe ich mir den Trinknapf mit einer Harke heran. Fülle ihn. Lege in den Tagen darauf Wurst hinein, die ich von daheim mit- gebracht habe...

 

 

Asta, die Riesin, wird mein allerbester Freund.

Wir dürfen bald ohne Leine durch die Felder streunen.

Das kleine Mädchen und den Wolf kennen alle im Dorf.

Es ist die glücklichste Zeit meines Lebens - geborgen - beschützt.

Bis zu jenem Tag, da ein wahrer Wolf den Hund besiegt...

 

 

 

 

Wir laufen und fliegen und gehen durch stilllebende Hallen.
Der Sommer fliegt draußen -

fliegt draußen am Fenster vorbei
Und ich steh' hier drin und draußen da brütet der Sommer
vor'm Fenster und ich flieg' in Gedanken zu dir...

Und ich lege mich zu dir in's Bett
und schließ' die Augen zu...

Wenn die Tage am dunkelsten sind,
sind die Träume - sind die Träume am größten!
Wenn die Nächte am tiefsten sind,
ist der Morgen - ist der Morgen nicht mehr weit...

Und haben sie euch auch geschlagen,
so haben sie doch niemals eure Kronen berührt!

 

Und egal wo es hingeht,
wo auch immer es hinführt,
wie auch immer es ausgeht

- es ausgeht mit uns...

Und weißt du, wo ich hingehör'?
Es ist mir auch egal...
Weiß nicht mehr, wo die Freiheit wohnt!
Weißt du, wo ich - weißt du wer ich bin??

Wenn die Tage am dunkelsten sind,
sind die Träume - sind die Träume am größten!
Wenn die Nächte am tiefsten sind,
ist der Morgen - ist der Morgen nicht mehr weit,
oh, ist der Morgen - ist der Morgen nicht mehr w
eit...