Kinder verstehen nichts vom Krieg. Wenn sie ihn nicht selbst erleben müssen. Vermutlich verstehen sie ihn selbst dann nicht. Aber begreifen, dass er Not, Flucht, Elend, Tod und Verzweiflung auslöst. Mutter und Schwester hatten den 2. Weltkrieg erlebt. Im Bombenhagel auf Berlin und auf der Flucht durch halb Europa. Sie waren traumatisiert. Aber das traf damals auf viele Millio- nen Menschen zu. Man hat sie zwangsläufig damit alleingelassen. Und sie wiederum oft ihre Kinder. Unfähig, das Erlebte zu verarbeiten und einen wirk- lichen Neuanfang zu starten. So legten sie viele Samenkörner von Angst und Verzweiflung, der vergeblichen Suche nach Glück, in ihre Kinder. Und oftmals ging diese folgenschwere Saat auch brutal auf...

 

Für mich bedeutete dies zunächst einmal, täglich mit barbarischen Geschichten aus der Erinnerung konfrontiert zu werden. Eine Mutter zu erleben, die kaum in der Lage war für sich selbst zu sorgen, geschweige denn für ein Kind, das sie nie hatte haben wollen. Und mit dessen Existenz sie zudem ein Geheimnis ver- band, das nie ans Licht kommen sollte. Der Umzug auf's Land hatte daran nichts geändert - ganz im Gegenteil. Alle Ablenkungen einer Großstadt ent- fielen zwangsläufig. Und im beschaulichen Dorfleben mit seinem vom Rhyth- mus der Jahreszeiten geprägten Leben kam meine Mutter niemals an.

Der Ort war klein und bestand aus einer Handvoll Bauernhöfen und einigen einzelnen Häusern. Die durchführende Straße war asphaltiert, die anderen waren längst festgefahrener Lehm, der nach Regengüssen rutschig wurde. Hochhackige Wildlederpumps waren da eher nicht angebracht und figurbe- tonte Flatterkleider im Cocktailstil waren es wohl auch nicht. Die Dörfler lachten, wenn die Stadtfrau daher stöckelte, um mal wieder einen wütenden Beschwerdebrief an ihren Mann im fernen Ruhrgebiet in den Briefkasten ein- zuwerfen. Misthaufen unter dem Küchenfenster waren nun wirklich ein Är- gernis, Fliegen in ungewohnter Größe, der gesprochene Dialekt in unverständ-lichem Sprachbrei, die Derbheit der nachbarlichen Bauersfrauen und Unan- sehnlichkeit der männlichen Bevölkerung in Arbeitskluft und Gummistiefeln...

 

Für mich war alles wundervoll! Mein Vater brachte mir auch Stiefel mit, damit ich mich in den Ställen aufhalten konnte. Draufen lief ich barfuß herum, wie alle Kinder. Eine kurze rote Lederhose wurde mein Hauptbekleidungsstück, da- ran konnten keine Kniepartien durchgescheuert werden, oder Säume sich auflösen - sie war sozusagen "unkaputtbar". Und die beste Lösung für das lebhafte Kind, das partout keine Kleidchen anziehen mochte und ein rechter Wildfang war.  

 

Seit der große Hund in mein Leben gekommen war, wurde alles noch schlimmer (nach Meinung meiner Mutter). Ich saß nun oft vor der Hundehütte, wir spielten mit einem Ball, oder Asta lag auf der Seite, oder dem Rücken und ich bürstete liebevoll das dicke Fell Stück für Stück. Meine nackte Haut färbte sich braun, ich fuhr mit zur Kartoffelernte, pflückte Obst von den Bäumen und probierte es, bis mir schlecht wurde. Eine Freundin hatte ich gefunden, bei der ich mehrmals in der Woche übernachten durfte und ich fühlte mich in dieser Familie willkommen und daheim, mit vielen Personen verschiedener Genera-tionen am großen Holztisch.

 

Eines Tages fragte ich den Bauern, ob ich Asta von der Kette nehmen und mit ihr herumlaufen dürfte. Er schob sich die Mütze ins Genick, kaute auf seiner Zigarette herum und war sichtlich überfragt. Das Stadtkind und der große Hund? Er sagte schließlich ja. Und von diesem Tag an zogen das Rothöschen und der Wolf los. Keiner traute sich in ihre Nähe, galt das "Monstervieh" doch als unberechenbar und aggessiv. Für mich war das wunderbar, denn nun wurde ich gänzlich in Ruhe gelassen. Und irgendwie wurde uns auch Respekt zuteil - eine ganz neue Erfahrung für mich! Wir tobten durch die Felder und stromerten durch den Wald, verfolgten den Lauf von Bächen. Wenn wir müde wurden suchten wir uns einen stillen Platz und legten uns hin, ich mit dem Kopf auf dem warmen Hundekörper, selig beschützt und geborgen.

 

Wenn mein Vater zu Besuch kam, brachte er stets viele Tüten, Kartons und Ta- schen mit Sachen mit, die meine Mutter mit ellenlangen Listen aus der heimi- schen Wohnung angefordert hatte. In dem "blöden" Dorf gab es ja nichts! Angeblich. Auch für mich war die Anreise stets ein Festtag, denn ich bekam neue Zeichenblocks vom Werk, meistens auch Bücher, Stifte und anderes. Lie- bevoll schmückte ich schon Stunden vor der erwarteten Ankunft den Parkplatz, an dem unser Auto stehen würde. Meine kleine Fußbank stellte ich vor Kopf auf, mit einem eigens für den Papa neu gemalten Bild. Daneben Gläser (oder falls vorhanden) Flaschen mit frisch gepflückten Blumen. Er sollte sehen, wie sehr er erwartet wurde und wie intensiv ich mich auf ihn freute!

 

Wieder stand ein solcher Besuch an und ich dekorierte eifrig unter den prü- fenden Blicken meiner felligen Begleiterin, die sicher enttäuscht war. Blumen waren kein Futter und Zeichnungen auch nicht! Auf einer war ein Schulhaus abgebildet mit dem Schild über dem Eingang "Gymnasium", denn der Lehrer hatte mir gesagt, ich bekäme eine Empfehlung dafür und im kommenden Jahr würde ich jeden Tag mit dem Bus nach Rothenburg fahren. Mein Papa wäre bestimmt stolz auf mich dachte ich und vielleicht nicht mehr so enttäuscht von mir, dass ich "nur" ein Mädchen war. Ich wusste nicht, dass diese Information längst an einen anderen Mann gesandt worden war, den das damals vermut- lich genauso wenig interessierte und von dessen Existenz niemand ahnte ...

 

Auch mein Vater überraschte mich. Er brachte Besuch mit.

Den alten Schwiegervater meiner Schwester. Der unbedingt

hatte mitkommen wollen. Zum lieben,  kleinen Mädchen.

Und nur das Rotkäppchen ganz ohne den Wolf wollte...