Nach einem Bombenalarm im nächsten Bahnhof ist es heutzutage kei-nesfalls selbstverständlich die angestrebte Station etliche Kilometer entfernt doch noch pünktlich zu erreichen. Ich sende ein Dankesgebet, als unser ICE in den Hamburger Hauptbahnhof einrollt! Ein Blick auf die Anschlagtafel hilft weiter, nachdem wir in den Bereich der Stadtan-schlüsse gewechselt haben. Ich renne vorweg, mein Großer hinterher. Wir erreichen die nächste Verbindung. Alles wird gut sein!

 

Seit Jahren sitze ich wieder in einer Bahn des HVV. Wie oft habe ich sie früher genutzt?! Oft war es die allerletzte am Abend, um nach einem sehr langen Arbeitstag HH-Harburg noch zu erreichen, wo mein braver Berlingo seit dem Morgen geduldig im Parkhaus auf mich wartete, um mich in meine winzige Wohnung in der Nordheide zu tragen, wo es ge- rade noch für die Nachrichten um Mitternacht reichte.

 

Noch viel gravierender aber ist mir in Erinnerung wie oft ich im Lauf der Jahre auf diesem großstädtischen Drehkreuz meine Kids traf. Mein Herz krampft, sticht, meldet sich schmerzvoll bei diesen Gedanken. Ir-gendwo in den Menschenmassen, welche uns gerade umgeben, könn-ten sie auch unterwegs sein...

 

Die Bahn hält direkt unter dem Airport. Das ist neu für mich. Im Som-mer 2007 bin ich hier zuletzt abgeflogen. Gen Alanya damals, in die Türkei. Hatte stundenlang mit meiner Tochter auf der Besucherter-rasse geschwätzt und gelacht. Es gab nach Jahren des Singledaseins wieder einen Mann in ihrem Leben und sie zeigt mir Fotos auf dem Handy. Ich wiederum ihr Bilder von GO, die mich auf meiner Reise begleiten würden. Der Unterschied: Sie haben sich eine mittlerweile fast über ein Jahrzehnt lang bestehende, stabile Beziehung erschaffen. Während unsere aus einem ständigen Kampf besteht, den ich erst Jahre später beende, als ich begreife wie viel Kraft sie mich kostet.

 

An all' das denke ich, während wir gehetzt auf dem großen Flughafen nach unserem Gate suchen. Die Zeit passt wunderbar. Alles könnte gut sein.Ist es aber nicht. Während mich tausend Erinnerungen einholen, will der Große unbedingt sofort einchecken. Es ist das allerallerletzte Gate. Wir laufen, laufen, laufen. Ich mit meinem Shopper ohne Trage-system auf dem Rücken, inmitten wahrer Menschenmengen. Möchte schreien, heimfahren, allein sein in meiner Schutz spendenden Burg!

 

Viel, viel später wird unsere Maschine endlich (!) aufgerufen. Ein älte-rer Mann fällt mir auf, der unsicher hin und her zockelt, mit weit of-fenstehender Schultertasche, in der man viele Bücher erkennen kann. Er hat etwas wirre Haare und setzt sich zwischendurch immer wieder aus der Warteschlange heraus auf die Plastikwartesitze, um sich nach Minuten wieder einzureihen. Seltsamer Typ – was will der wohl in ei-ner Stadt wie Lissabon? Was wollen WIR dort? Auf beides finde ich zu diesem Zeitpunkt keine Antwort.

 

In der fast ausgebuchten Maschine sitzt der merkwürdige „zerstreute Professor“ ausgerechnet in der Reihe neben uns. Nur kurz allerdings. Er hat keinen Platz reserviert, andere hingegen schon. Was eingefor-dert wird. Er wechselt scheinbar erstaunt mehrfach. Landet irritiert letztlich auf dem Sitz vor mir. Eine Passagierin hat ihm diesen bereit-willig abgetreten, um ganz hinten Platz zu nehmen, wo sich noch freie Reihen befinden.

 

Die Folge: Neben unserem etwas seltsamen „Gelehrten“ nimmt ein nicht weniger merkwürdiges junges Paar Platz: eine offenbar mehr als zierliche Frau, die den Flug komplett verschlafen wird und ihr Beglei-ter, der eigentlich zwei Sitze brauchen würde. Er wird unablässig re-den, den älteren Mann neben ihm vier Stunden lang lautstark zutexten mit seiner Familiengeschichte, der des Stiefvaters und seinen Vorstel-lungen von optimalen Reisen mit wahrhaft erfüllenden alkoholischen Exzessen. Unfreiwillig werde ich u.a. über die besten Biersorten der Welt (angeblich in Las Vegas zu trinken) und sämtliche Unterschiede schottischer Whiskys umfangreich informiert.So sehr ich auch versuche diesen Schwachsinn zu ignorieren: er bohrt sich unüberhörbar in mei-ne Gehirnwindungen, nimmt mir alle Möglichkeiten einer Flucht in ei-gene Gedanken. Nichts ist umsonst. Das habe ich längst begriffen. Und frage mich, was ich aus dieser Situation lernen soll/könnte?!

 

Mühsam versuche ich mir eigene Überlegungen in Erinnerungen zu ru-fen.Das, was ich erreichen , für mich klären möchte in jener Woche in Lissabon, die uns nun bevorsteht. Die ALLES beinhalten kann. Anfang oder Ende. Einen Kompromiss. Gar nichts davon. Vielleicht einen Neu-beginn unter ganz anderen Umständen? Der Mann an meiner Seite kämpft sich auf seine Art durch den mehr als vierstündigen Flug. Ahnt er irgendetwas von meinen Gedanken? Fürchtet er sie?

 

Es ist gegen Mitternacht als wir die Lichter der fremden portugiesi-schen Stadt erblicken. Wir kreisen in einer Warteschleife und ich suche traurig nach den Windungen des geliebten Douro. Aber da sind keine. Wir schweben ja auch über dem Tejo, befinden uns statt im so vertrau-ten Norden im portugiesischen Süden. Warum schmerzt das vermale-deite Herz denn schon wieder so?

 

Ein Bus karrt uns ewig von einem weitläufigen Flughafengelände zu einem anderen. Wir saßen in der Maschine ziemlich weit hinten und es ist mir gelungen im Zubringer einen von nur zwei Sitzplätzen zu ergat-tern. Müde und erschöpft sitze ich dort. Früher hätte ich anderen Pas-sagieren den Vortritt gelassen. Jetzt aber begreife ich, dass ich 60plus bin und ein schmerzendes Bein habe. Freue mich über den scher-zenden, schwarzen Fahrer, der mit anderen Lenkern trotz der fortge-schrittenen Zeit lachend Sprüche austauscht. Ich bin zurück in der Welt der Toleranz, des Miteinanders. Hier wird niemand danach fragen ob meine Großmutter Jüdin, oder sonst irgendwelchen Glaubens war. Wo ich geboren wurde. Vielleicht ist gerade dies jener Moment, in dem ich doch angekommen bin?!

 

Der Bus trägt uns kilometerweit. Ryanair landet offenbar fast im NIR-GENDWO und irgendwo spielt sich das normale Leben des Lissabon-ner Flughafens statt. Viel habe ich darüber gelesen. Vor allem über die Taxen. Wo man mitfahren sollte, wo eher nicht, wo es „Voucher“ gäbe (überteuert, aber immerhin zum sicheren Festpreis). Wir entscheiden doch den vorderen Ausgang des Flughafens zu wählen, entgegen der Ratschläge im Reiseführer. Es herrscht stockdunkle Nacht, wir sind in der Fremde, beherrschen weder die Sprache, noch kennen wir den Standort unseres Zieles. Hier fährt keine Metro mehr, es ist eben nicht Porto, wieder einmal muss ich es schmerzlich feststellen...

 

Eine portugiesische Eigenart ist die Reihe. Sich anzustellen. Geduldig. Was wir bisher nur gelesen haben, begreifen wir schlagartig in der Rea-lität. Längs verspannte Gurte mit Wendekurve leiten uns. Geradeaus. Um Ecken. Dann sind wir dran, ein Polizist winkt aus einer aufgereih-ten Taxenschlange einen Daimler heran. Alles läuft völlig ruhig ab, mit minimalen Gesten. Man soll den Startpreis des Taxometers genau an-schauen, was ich mit einem Seitenblick versuche. Die anderen Auslän-der haben ihren Fahrern Zettel mit Adressen vorgezeigt. Was unter meiner Würde ist. Ich nenne unser Ziel in drei Worten und mit feh-lerfreiem Portugiesisch (so hoffe ich jedenfalls).

 

Der Fahrer nickt wortlos und heizt los. Alle Bücher haben die krasse portugiesische Fahrweise angekündigt, es nun in Reinkultur zu erleben ist hingegen noch ein ganz anderer Schnack! Auf diskrete Anweisung meines „Riesen“ sitze ich vorn. In diesem Fall mit dem Gesicht direkt vor der Windschutzscheibe. Der Sitz ist halt für kleine Portugiesen eingestellt! Klammheimlich fingere ich in der Dunkelheit an sämtli-chen irgendwie ertastbaren Hebeln am Sitz herum. Vergeblich. Na prima!

 

In der nächtlichen Stadt fallen mir unübersehbar mächtige Wolken-kratzer ins Auge. Irgendwie fühle ich mich ein wenig wie in Manhattan. Oder im Bankenviertel von Frankfurt. Es verschlägt mir buchstäblich die Sprache, als ich riesige Leuchtreklamen bekannter europäischer Firmen (IKEA, ZARA usw.) in allen Spektralfarben sehe. Ist es das was ich wollte? Nicht eher jenes, was ich fürchtete? Es ist nicht Porto. Nicht mein/unser Porto!! Was will ich/ was wollen wir hier in dieser fremden Großstadt? Habe ich/ haben wir bei dieser Buchung einen großen Feh-ler gemacht? Der Mercedes rast durch dunkle, unbekannte Straßen. Wir können daran nichts ändern, ich fühle mich ausgeliefert, ein Ge-fühl, das ich überhaupt gar nicht zu ertragen vermag.

 

Als wir um eine Ecke biegen erkenne ich etwas, das ich von ange-schauten Lissabon-Videos her bereits ziemlich genau kenne. Und stehe bald darauf an jener Bushaltestelle, die ich immer wieder bei youtube gesehen habe. Seltsam ist das. Irgendwie befremdlich. Und doch ver-traut, ohne es eigentlich sein zu können.

 

Ich gebe dem schweigsamen Taxifahrer 2 € Trinkgeld, wie in unserem Reiseführer angeraten wurde. Der zuvor so stille Mann flippt über die-se Zugabe förmlich aus und ist von null auf gleich so fröhlich wie wir Portugiesen bisher oft kennengelernt haben. Die Fahrt war um 25% günstiger als im Reiseführer angekündigt, wir wurden also keinesfalls über den Tisch gezogen. Nur gut, dass wir zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, wie ganz anders eine solche Geschichte ablaufen kann. Und, dass sie uns wahrhaft teures, bitteres Lehrgeld kosten wird...

 

Ich weiß sofort wohin wir uns wenden müssen. Aus „unserem“ kleinen rosafarbenen Häuschen fällt Licht auf die schmale Gasse. Ich renne ihr förmlich entgegen! Unsere Vermieterin Monica empfängt uns so warm-herzig, als gehörten wir zur engeren Verwandtschaft. Eine gute Flasche Wein erwartet uns ebenso wie Duftkerzen, jegliches Infomaterial und ein entzückendes kleines Haus, das nun für acht Nächte unser Heim sein wird. Wir verabschieden uns mit einer liebevollen Umarmung im Gefühl daheim zu sein.

 

Es ist längst weit nach Mitternacht, als wir bei milden 18° in Richtung Tejo bummeln (viel auszupacken gab es ja wahrhaftig nicht). Nur in Westen ziehen wir los, statt mit warmen Jacken wie zu Hause. Kinder spielen noch im Park, Menschen sitzen draußen vor Restaurants unter Palmen. Es ist einfach warm für mitteleuropäische Verhältnisse.Alles ist gut in jenem Moment. Weil wir nichts in Frage stellen, nur froh sind, doch noch (trotz aller Widrigkeiten) angekommen zu sein. Eine Meta-pher für unser Leben/unsere Beziehung?

 

An einer Absperrung endet unsere kurze Freude. Zwischen uns und dem Tejo verläuft ein hoher Metallzaun mit Schienen in zwei Rich-tungen dahinter. Und einer dreispurigen Straße auf unserer und einer ebensolchen auf der gegenüberliegenden Seite dazu. Wir wissen nicht was das zu bedeuten hat ( am Douro vermochte man immer direkt am Ufer entlang zu laufen), freuen uns aber einfach über die unerwartete Wärme, Entspanntheit, freie Zeit, die malerischen Gebäude und den Sternenhimmel.

 

Es ist aber nicht Porto. Zum wiederholten Male stellen wir das fest. Was haben wir denn auch erwartet?! Müde fallen wir ins kleine Dop-pelbett. Bis mich bald darauf ein Höllenlärm aus eben jenem auf-schreckt, gerade als ich endlich eingeschlafen bin! Nein, es handelt sich nicht etwa um brachiale Einbrecher, oder gar ein Baufahrzeug , das da-bei ist unsere 45qm–Hütte zusammenzuschieben, sondern „nur“ um das sich allnächtlich zweimal mühsam rückwärts in die kleine Gasse würgende städtische Müllfahrzeug um 2.45 Uhr, an das wir uns werden gewöhnen müssen!

 

Morgens werde ich zum gedeckten Tisch geweckt.

            Der Held hat die benachbarte pastelaria (Bäckerei, Café,                        Konditorei) fürs Frühstück geplündert.

Was kann man entgegnen,

wenn die traurige Antwort auf Vorhaltungen lautet:

 "Aber du bist mein erster Gedanke am Morgen

und der letzte, bevor ich einschlafe!"

Wieder einmal fühle ich mich undankbar und schuldig...