...es ist so lange her - wie lange dauert es um zu vergessen, oder gelingt es nie?

 

Nach dem Jahrtausendwechsel versuche ich den Neuanfang. Gehe fort aus der Seehafenstadt in der Nähe der niederländischen Grenze. Zwischenstation ist der Norden der Republik, fast an der dänischen Grenze. Was sich als Illusion erweist. Neuer Fluchtpunkt wird Hamburg, eine Wohngemeinschaft mit meinem Sohn und seinen Freunden. Ich scheitere erneut. Ganze 20 DM verbleiben mir am Geldautomaten meiner Bank als letztem Kapital. Wovon ich Futter und Streu für meinen Kater kaufe, der ein Methusalem ist. Auf dem Rückweg komme ich an einer Kirche vorbei. Lese das Schild: "Falls ein Gespräch helfen könnte: Wir sind da!" Und trete ein. 

Der Mann der mir in einer der vielen Kirchenbänke nahe dem Hamburger Hauptbahnhof zuhört, ist offen und liebevoll. Er fragt mich: "Glaubst Du?" Das hat mich seit vielen Jahrzehnten niemand mehr gefragt. Mit gesenktem Kopf sitze ich da. Denke nach. Komme überraschend schnell zu einer Entscheidung. "Was kann Dir dann geschehen?!"

An die Diakonie werde ich verwiesen, lande weitergegeben am Hauptbahnhof, nette Menschen drücken mir einen Plastikbecher mit heißem Tee in die novemberkalten Hände. "Es gäbe Plätze. In Pensionen. Aber oh- ne Haustier!" Ich müsste mich von meinem alten Mischa trennen.  Der nun seit achtzehn Jahren mein Le- ben bereichert. Als Totgeburt in meiner kleinen Küche habe ich einst um sein Leben gekämpft. Ihm meinem Atem eingehaucht. Ihn mit einem Handtuch gerubbelt, bis die winzigen Glieder zuckten. Das Fellbündel mit dem Gewicht eines neugeborenen Hamsters am Körper getragen, bis ein lebensfähiges Tierchen daraus er- wuchs. Mein Mann fotografierte ihn. Meine Mutter streichelte über seine Stirn und sagte: "Das ist ein  rich- tiger kleiner Prinz, schau nur, er trägt ja ein Krönchen auf seiner Stirn!"

Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen. Mein Mann und meine Mutter haben längst ihr Leben gewaltsam verloren. Meine Kinder sind Erwachsene und suchen ihren ganz eigenen, speziellen Weg. Der Halt, welchen sie in mir stets haben, der allerdings fehlt mir. Niemand sorgt für mich. Ich bin am Ende meines Geldes an- gelangt. Was soll aus mir werden?

Meine Tochter gibt mir am Folgetag eine Rufnummer. Gefunden am schwarzen Brett der Uni. Dort sucht man Helfer(innen) für eine Kerzenwerkstatt. "Was hast du zu verlieren, wäre das nichts?" Ich rufe an, fahre hin, das Fahrkartengeld bedauernd. Man drückt mir einen Bewerbungszettel in die Hand. Betonend, dass man eigentlich komplett ist, niemanden mehr braucht. Im Versuch unsichtbar zu werden drücke ich mich unter die Garderobe im Flur, fülle unsicher den Fragezettel aus, da ich nun einmal da bin.

Unablässig klingelt das Telefon, rattert das Faxgerät. Ich wünsche mich fort. Weit fort. Sehr weit! Lege leise und schüchtern meinen Zettel im Büro ab. Bereit unauffällig zu verschwinden. Im Flur renne ich bei meiner Flucht einen Mann um, murmele irgendwas mit dem Blick auf die rettende Tür zum Hof. Er legt mir seine Hand auf die Schulter, fragt mich warum ich da bin. Ich murmele irgendwas in den hochgeschlagenen Kra- gen meiner viel zu dünnen Jacke. Auch, dass ich weiß, dass man niemanden mehr braucht. Seine grauen Au- gen mustern mich scharf, als höre er mir überhaupt nicht zu. In Nullkommanichts fühle ich mich in einen Raum gezogen.  Unter der Decke verläuft rundum ein Fries, auf dem leuchtend rote Lampen stehen.

Ich fühle mich wie im Innern eines Vulkans, in einer Zauberwelt, von deren Existenz ich nichts ahnte, möch- te davonlaufen und mich zugleich festklammern am Sessel, den man mir zugewiesen hat. Eine Frau gibt mir einen großen Becher mit Tee, man befragt mich. Was habe ich bisher beruflich gemacht? Leise äußere ich Krankenschwester  zu sein. Was so gar nicht in diesen Raum zu passen scheint. Kralle mich völlig sinnfrei an meine Bewerbungsmappe. Die in dieser Umgebung absolut unpassend zu sein scheint. Ich möchte davonlau- fen, fliehen aus einer Welt, die mir fremder kaum sein könnte...

Die Frage nach meinem Geburtsdatum gibt mir irgendwie den Rest. Seltsame Menschen sind das. "Total verpfiffen" hätten wir sie wohl genannt in meinem früheren Job. Den es nun nicht mehr gibt. Und eine Wahl habe ich längst nicht mehr, wenn ich irgendwie überleben will. Meine Antworten sind mehr als leise, die Mappe in meinen Händen nervös zu einer Rolle geformt. Ich möchte fort, heim, in mein WG - Zimmer. Um mich in Sicherheit zu fühlen. 

Ein Magier wird telefonisch befragt, der meine Zukunft entscheidet mit der Interpretation meines Geburts- datums, meiner Stärken und Schwächen. Binnen zehn Minuten nimmt mein in diesem Moment äußerst fragwürdiges Schicksals eine entscheidende Wendung. Man bescheinigt mir ausgeprägte Führungsqualitä- ten, ein ungewöhnliches Verkaufstalent. Mit anderen Worten: Eine goldene Zukunft. Ach, bitte mehr davon! Ich bin scheinbar Gottes Segen für die Menschheit, nur leider bisher gänzlich unbemerkt, lächel...

 

Binnen weniger Minuten wird aus der Bittstellerin die Chefin eines großen Verkaufsstandes.

Mit enormen Umsatzdruck, dem Willen zu siegen. Um zu überleben. Und so viel mehr...

Wie so oft in meinem Leben stehe ich an einem Anfang. Doch mit dem Ende vor Augen.

Weil ich nicht verstehe. Wer ich bin. Wonach ich suche. Doch es ist alles vorherbestimmt...

 

 

 

 

Mama,wenn die Nacht anbricht sehe ich die Sterne nicht, ich sehe nur dein Gesicht,

komm' doch und beschütze mich, verlass' mich bitte nicht...