Das neue Heim hat ganze 25 qm. Auf denen fast alles untergebracht ist was ich besitze. Der Rest stapelt sich im zur Wohnung gehörigen Keller in sorgfältig eingepassten Holzregalen von IKEA an zwei Wänden und e- xakt aufgestapelten Kartons und Sachen in der Mitte. Als ich fertig bin ist der Raum bis auf den letzten Zen- timeter ausgenutzt, wenn man die Kellertür öffnet, steht man quasi vor einer geschlossenen Wand. Gang und gäbe ist es in jenen Jahren die Kellerräume regelmäßig aufzubrechen. Was sucht man dort? Spirituo- sen? Elektrogeräte? Was auch immer - mehrfach wird auch meine hölzerne Kellertür aus den Angeln geris- sen beim vermeintlichen Beutezug. Schade, dass ich keine Kamera integriert hatte, die dummen Gesichter der Täter hätte ich gern abgelichtet, die eben in den Raum eindringen wollen und vor einem stehen, der nicht zu betreten ist...

Alles, was allergisch auf Kälte / Feuchtigkeit reagieren könnte umgibt mich nun. Es sieht zwar nicht ganz aus wie einige Etagen tiefer, aber der Unterschied ist nicht allzu groß. Früher wäre mein Kater sicher äu- ßerst verstimmt gewesen über diese schmalen Gänge. Da war er noch pummelig. Und riesig. Jetzt ist er alt und klapprig. Ich wünschte, ich hätte Fensterbretter, von denen aus er in die Welt schauen könnte. Aber in meinem bescheidenem Heim gibt es nur Dachfenster. Wir sehen beide nur den Himmel. Als solle das so sein.

Nach den Feiertagen muss ich mich arbeitslos melden. Und obwohl ich im Landkreis Harburg wohne, ist "Harburg" keineswegs der Ort, der nun zuständig für mich ist. Wäre ja auch zu einfach, läge knapp hinter dem Horizont. Aber ich wohne in der sogenannten Nordheide, eben gerade unterhalb von Hamburg. Die Hauptstraße neben mir gehört zu Niedersachsen, aber dreißig Meter weiter zu Hamburg. Was beim Kauf der Wohnung keine Rolle spielte, war sie doch für Töchting's Studienzeit gekauft. Eine Busstation mehr oder weniger bedeutete einen Unterschied von ganzen drei Minuten, auf dem Weg zur Technischen Uni in Ham- burg - Harburg.

Nun aber sind diese dreißig Meter entscheidend. Denn auch wenn die Bäume, auf die ich unten schaue, be- reits zum Bundesland Hamburg gehören, so bin ich doch Einwohnerin von Niedersachsen, einem völlig an- deren Bundesland. Dem messe ich anfangs keine große Bedeutung bei. Man wird mir aber rasch beibringen, dass das zwei völlig verschiedene Welten sind, was Fördermaßnahmen und Jobs angeht. Es war nie geplant, dass ich dort wohnen würde. Warum auch? Doch jetzt ist es so. Rund 1000 DM pro Monat muss ich für die- ses Studio aufbringen. Und habe ein Arbeitslosengeld von gerade 850 DM...

Da ist auch noch das ferne Haus in der Seehafenstadt. Ein halbes Jahr ist mittlerweile vergangen, seit ich es nach eigenhändiger (und mühsamer) Komplettrenovierung an einen Makler übergeben hatte. Bisher ohne Erfolg. Auch die Wohnung war Erstbezug nach Neuaustattung. Sie habe ich nun aufgegeben, im Hinblick auf einen Verkauf. Irgendwo mussten wir hin, in unsererer Not, der alte Mischa und ich. "Wenn erst das Haus verkauft ist, dann..." wird zum geflügelten Wort in der Familie. Ja dann wäre alles gut. Es geschieht nur nicht. Der Makler überzeugt mich ihm das Objekt ein weiteres halbes Jahr im Alleinauftrag zu überlassen. Doch es ist längst "verbrannt" auf dem Markt der Verkaufsobjekte. Was ich nicht weiß, ich bin kein Immo- profi, woher auch?

Weit muss ich nun fahren, um das zuständige Arbeitsamt aufzusuchen, mich anzumelden. Aufgeregt, ange- spannt, nach schlafloser Nacht. Ohne Termin? Das geht nun gar nicht! Ich bekomme einen Stempel in meine Unterlagen, dass ich da war. Ganz von oben herab behandelt. Ich beginne die deutsche Bürokratie bald zu lieben. Fahre auf eigene Kosten hin und her, werde zum Spielball von Leuten, die mich gar nicht kennen. Und denen ich absolut gleichgültig bin. Mein Schicksal ist es ebenfalls...

Ich lebe von dem, was ich am Stand verdient hatte, kann nur wenige Schritte in meiner Behausung hin und her gehen. Was könnte / sollte man dort tun im bittersten Winter, ungeheizt natürlich? Ich habe nun Kabel- fernsehen inklusive und nutze das. Wenn ich schon nicht in die Welt hinaus kann, so hole ich sie mir unter meine Dachschräge. Werde zum Fernsehjunkie binnen kürzester Zeit. Plündere die örtliche Bücherei mit Reisetasche, die maximale Anzahl an Büchern ausleihend, die man mitnehmen kann. Niemanden kenne ich in diesem kleinen Ort, der zu Hamburgs "Speckgürtel" gezählt wird. In der Metropole arbeitet man und fährt danach heim in die idyllische Landschaft mit den teuren Häusern und Landschaftsschutzgebieten.

Täglich warte ich auf den Anruf, der mir einen Job verheißt, aber er kommt nicht. Ab und zu jobbe ich für die Firma, die mir zur Weihnachtszeit quasi finanziell das Leben gerettet hat. Wieder sind die Bedingungen unmenschlich. Meistens nachts. Und vor allem in einer Lagerhalle in Schleswig - Holstein. Die Wände sind mit Eiskristallen bedeckt, man denkt, dass man diese Zeit nicht gesund übersteht. Immer ist alles "urgent", also dringlich, und hätte schon längst auf dem Weg zum Kunden sein müssen. Es dauert seine Zeit bis ich begreife, dass das in diesem Betrieb der Normalfall ist.

Habe ich eine Wahl? Nicht wirklich. Einmal kommt ein Anruf am Nachmittag. Ich solle sofort kommen, auf der Stelle! Immerhin habe ich den Mut nachzufragen, ob man verstanden hat wo ich wohne?! Nö. Warum auch? Ich packe mich warm ein, sehe aus wie Martha Quadrata und gebe  dem armen 60 PS - Berlingo die Sporen. Was nicht viel hilft, um diese Zeit und im Nadelöhr Elbtunnel. Fix und fertig treffe ich an der abge- legenen Halle ein. Vor welcher eine total verfrorene Horde junger Menschen wartet. Aller Hautfarben, aus vielen Nationen. Meine "Arbeitssklaven".

Die Halle stellte sich als gefüllt mit Ware heraus, darin zu arbeiten war unmöglich. Ich verbreitete also gute Laune, ließ die Klapptische (Bierzeltgarnituren) nach draußen schaffen, richtete Arbeitsplätze in logischer Reihenfolge ein. Stellte mich dazwischen und legte los. Natürlich. Die Kälte war im Grunde nicht auszuhal- ten. Vor allem, als der Mond herauskam und die Nacht sich als sternenklar erwies. Ich ließ kannenweise Tee und Kaffee verteilen, Essen holen aus dem Gewerbegebiet. Am Ende sangen wir, jeder gab etwas aus seiner Heimat zum Besten. Irgendwie hatte ich das Gefühl mich zu schlimmsten Kolonialzeiten auf einer Zucker- rohrplantage zu befinden...

Gegen Morgen wurden wir abgeholt, schliefen ein paar Stunden auf dem Firmengelände in erbärmlichen Umständen und die Härtesten quetschten sich mit mir tatsächlich wieder in den vergammelten Firmenbus um die Arbeit zu beenden. Gegen Mitternacht war sie vollbracht. Und wir alle fertig mit der Welt. Der Chef kam, des Lobes voll, ausgeschlafen, vollgegessen und im warmen Kamelhaarmantel. Keiner hörte seinen Schwafeleien zu. Ich bedankte mich bei jedem der Getreuen, der durchgehalten hatte. Mit Lob, einer liebe- vollen Umarmung und angemessenem Entgeld. Das sei doch nicht nötig gewesen, so erklärte der selbster- nannte Big Boss. Und ich ihm, dass diese Menschen wiederkommen würden. Um meinetwillen. Im nächsten Notfall. Da wurde er still...

Natürlich traten diese Situationen immer wieder ein. Und ich begriff, dass da Menschen eine Firma leiteten, die dazu keinerlei Fähigkeiten besaßen. Aber sie retteten damit mein finanzielles Überleben. Längst fischte ich weggeworfene Lebensmittel aus den Supermarkt - Containern meines kleinen Ortes, immer in der Sor- ge, unter dem Flutlicht von Kameras beobachtet zu werden. Ich lebte nicht, ich überlebte und das war ein sehr großer Unterschied!

Am 11. September geschah das Undenkbare: der Angriff auf das World Trade Center. Ich war geschockt. Warum lebte ich und so viele junge und wertvolle Menschen waren gestorben?! In unserer kleinen Kirche wurde einige Tage später ein Buch dazu ausgelegt. Und ich schrieb hinein, was ich dachte und fühlte. "Wa- rum nicht ich? Die ich doch nur eine finanzielle Last für mein Land bin, nicht einmal eine Arbeit habe!" Man mag jetzt sagen, ich reimte mir im Nachhinein etwas zusammen. Aber das stimmt nicht. Schon im Hausflur hörte ich mein Telefon klingeln, rannte die letzte Etage hinauf, stürzte zum Apparat. "Wir haben ein Stellen- angebot, finden Sie sich morgen um... bei... in... mit den Bewerbungsunterlagen ein!"

 

Zufall? Am Folgetag habe ich zwei Jobs. Treffe eine Entscheidung (muss es!). Die falsche?

Ich bin auf meinem Weg. Alles ist vorherbestimmt. Es geschieht, wie es geschehen soll.

Hoch gewinnen werde ich. Weit laufen. Tief lieben. Und verlieren. Aber niemals vergessen...