Lange habe ich in der letzten Nacht noch wach gelegen. Nachgedacht. Wie es Asperger eben unablässig tun. Eine sehr gute Sendung zum Thema hatte ich dieser Tage gesehen. Mit Menschen, denen ich mich verbun- den fühle. Wie jenem jungen Mann, der so gern aufhören möchte zu denken. Was ihm gelingt, wenn er ein Instrument spielt. "Musik, das hilft, dann konzentriere ich mich ganz auf die Töne. Es sind meine Pausen von der permanenten Gedanken- und Verarbeitungsflut". Wie gut ich ihn verstehe...

Die zweite SMS des Weihnachtstages war nicht gut. D.h. an sich schon. Aber eben für MICH nicht. Sie er- folgte auf den Erhalt meiner Karte hin, die endete mit: "Das Wichtigste im Leben ist die Liebe. Sie bleibt. Ganz gleich, was geschieht." Ich empfand das als klar und deutlich. Hatte mir (natürlich) eine Reaktion da- rauf gewünscht. Sie aber nicht erwartet. Denn Liebe ist ein Geschenk und kein Anspruch. Die Antwort war voller Freude. Aber auch Rätsel. Warum können "Normalos" nicht einfach schreiben um was es geht? Her mit den Fakten, rauf auf den Tisch damit! Aber nein, nebulöse Andeutungen. Die alles und zugleich nichts bedeuten können...

Auch von der zweiten SMS her Freundlichkeiten. Bitte treffen in der Mitte, reden, eine gute Zeit haben. Das wird supertoll, ganz bestimmt! Ach ja? Da habe ich so meine Zweifel. Denn in meinem so verflixt fotogra- fisch speichernden Hirn habe ich die letzte Aktion dieserArt noch sehr lebendig in Erinnerung. Als ich plötz- lich radikal begriff, welches Schauspiel sich da vollzog. Und was in Wahrheit dahinter stand. Solche Stunden muss ich nicht wieder haben! Sondern lieber einen runden Tisch, an dem drei Menschen sitzen. Mit hohen Erwartungen. Am Ende vermutlich sehr geschockt. Aber endlich der Realität in die Augen schauend. Die si- cher schmerzt. Da sie erkennen (müssen), was sie immer schon getrennt, aber zugleich ungeheuer verbun- den hat. Sie sind anders. Und werden es immer sein...

Wo ist MEIN Platz in dieser Entwicklung? Als Mutter habe ich mich immer als Bindeglied gesehen. Bis diese Illusion zerplatzte. Aus drei Menschen wurden zwei plus eins. Und plötzlich eins plus eins plus eins. Wenn ich eine Familienaufstellung machen müsste, wie sähe sie dann aus? Vier Figuren (denn mein Enkel gehört auch dazu), die wo und wie zueinander stehen? Gedanklich wird es ein Kreis, in dem drei Menschen mit dem Rücken zueinander nach außen schauen. Die jüngste Figur (vierte) in enger Verbindung zur Mutter auf alle anderen Personen schaut. Er liebt sie, denn sie bilden die eine Hälfte seiner Familie...

Wie werde ich handeln? Mit meinen Weihnachtsgrüßen habe ich etwas herausgefordert. Dem ich mich nun stellen muss. Es wird mein letzter Versuch sein. Endgültig zu sagen, wer und wie ich bin. Was ich mir wün- sche. Erhoffe. Sein kann. Nie sein werde. Um das deutlicher zu machen: Wenn Familienangehörige einem Menschen mit Down - Syndrom sagen, dass sie ihn lieben würden, wenn er sich nur bemühte anders zu sein, wird ihm das gelingen? Nein. Wie auch?! Aspergern genauso wenig. Wie auch? Es ist schlicht unmöglich. Im Morgengrauen entstehen Skizzen. Darüber schlafe ich endlich ein...

Eine Geschichte? Ein Märchen? Metaphern? Eine Fabel? Alles und nichts davon zugleich...:

 

Es war einmal ein Mann, der hatte in seinem Leben schon vieles versucht. Mit mehr oder weniger Erfolg. Er war vielseitig begabt, was ihm mehr Plage als Siege einbrachte. Doch er konnte nie ergründen, woran das lag. Eines Tages hörte er von jungen sibirischen Tigern, die heimat- und mutterlos waren, so ging er hin und nahm sie zu sich. Lehrte sie alles, was sie wissen mussten. Gab ihnen zugleich ein Heim. Mit Liebe und Ver- lässlichkeit. So wuchsen sie zu stolzen, klugen und starken Tieren heran.

Es musste Geld ins Haus, denn das braucht es, um heranwachsende Großkatzen zu ernähren. Ein bekannter Zirkus hörte von der engen Verbundenheit zwischen Mensch und Tier, sah sich diese an und engagierte das Trio. Dies war der Zirkus des Lebens, der viele Reisen und ständige Anpassung erforderte. Was eine relativ lange Zeit über scheinbar reibungslos funktionierte. Bis zu jenem verhängnisvollen Abend, an dem die mitt- lerweile ausgewachsenen und starken Raubtiere über ihren Dompteur herfielen. Er war in der Arena ge- stürzt und hatte sich schwer verletzt. Glaubten sie da es sei die Zeit gekommen, ihre eigene Macht und Kraft zu beweisen?

Einer Peitsche hatte es bisher nie bedurft. So gab es jetzt keine, um sich der Angriffe zu erwehren. Die Bisse und Prankenhiebe erreichten ihr Ziel. Bis die aufgebrachten Tiere sich gelangweilt zurückzogen. Ihr Opfer wehrte sich nicht mehr, lag still und starr blutend auf dem Boden der Arena.  Alle Umstehenden hatten ent- setzt und wie gelähmt zugeschaut. Sie hatten nichts tun können. Erst als der Verletzte sich mühsam Rich- tung Käfigtür zog, da griffen sie ein. Und zu. Brachten ihn in Sicherheit. Alarmierten die Rettung. Alle Wun- den wurden vernäht, der Bruch gegipst.

Der Körper heilte. Die Seele nicht. Der Mann konnte zunächst nicht aufstehen. Später wollte er es nicht mehr. Er verbarrikadierte sich in seinem Haus. Zog sich irgendwann in ein Zimmer zurück. Und verkroch sich am Ende im Bett, so oft es ging. Von der Welt draußen erwartete er nichts (mehr). Außer neuen Ver- letzungen. Die er sich ersparen wollte. Die Tragik war, dass er von den Abenteuern träumte, die er früher erlebt hatte. Zugleich aber um den Preis wusste, den er stets dafür bezahlt hatte...

Es kam die Zeit, da der Zirkus sein langjähriges Bestehen feiern wollte. Mit einer Jubiläumstournee. Man lud den Dompteur zu einer Sonderveranstaltung ein. Er sah alle Artisten nun vom Zuschauerrang aus. Die prächtig geschmückten Tiere. War irritiert von den vielen blinkenden, bunten Lichtern. Und erkannte, dass dies nicht mehr seine Welt war. Der Zirkus eben nur ein Theater der Illusionen. Ernst ging er hinaus, wäh- rend noch die bunten Clowns ihre Späße trieben...

In den Irrwegen der vielen Wagen und Zelte suchte er nach "seinen" Tigern. Sie hätten Sehnsucht nach ihm, so hatte man ihm mitgeteilt. Was er sehr gut verstand. Denn sie fehlten auch ihm ungemein. Waren sie doch über lange Jahre das Zentrum seines Lebens gewesen. Wie glücklich war er, als er ihre Käfigwagen im Gewirr der Gassen auf Zeit entdeckte! Die Tiere erkannten ihn sofort. Schmiegten sich an die Gitterstäbe, so dicht es nur möglich war, damit er ihr Fell streicheln und sie an den vertrauten Stellen kraulen konnte. Wie er es immer schon getan hatte, so lange er zurückdenken konnte...

Für einen Moment schien es, als habe es das Unglück nie gegeben. Weil beide Seiten sich das so sehr wünschten? Dann erfolgten Prankenhiebe der mächtigen Tiere gegen das Gitter. Sie fletschten ihre Zähne, versuchten aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Noch lange verfolgte den Mann das dunkle Brüllen. Er zit- terte am ganzen Körper, denn alle Erinnerungen holten ihn ein. Und er begriff, dass der Weg zurück  einen hohen Preis erfordern würde. Vielleicht sein Leben...

Hier endet das, was man nun so zu beenden vermag, wie man es selbst gern hätte.

 

1.) Der Mann überwand sein Trauma. Er kehrte zurück in die Welt der Illusionen. Feierte große Erfolge...

2.) Er kehrte zurück. In Angst. Berechtigt, denn die Tiger töteten ihn bald darauf...

3.) Der Dompteur wanderte aus nach Island, züchtete Ponys. Weil sie weder Krallen noch Reißzähne haben.

4.) Man fand ihn irgendwann tot in seinem Haus, in dem er sich buchstäblich vergraben hatte...

5.) Oder aber: Er packte eines Tages wenige Sachen in seinen Rucksack. Überschrieb sein Haus mit allem Inhalt einer Stiftung, die sich darum kümmern sollte, dass dies seinen Tigern zugute käme. Man sah ihn in Marrakesch, wo er sich Transporttaschen nähen ließ, ein Berberzelt aus Linnen erwarb und zwei Kamele, denen er die Namen der Tiger gab. Fortan sah man ihn in der Wüste, in Begleitung nomadischer Karawa- nen. Er lebte ihr bescheidenes Leben und von dem, was es eben gab. Sein Zelt stand immer etwas abseits, aber am abendlichen Feuer da saß er in der Mitte seiner Begleiter. Ihre Sprache erlernte er niemals in ihrer Vollständigkeit.  Aber seine Kenntnisse reichten aus, um das Wenige zu sagen, was ihm noch wichtig war.

Eines Tages fand man ihn tot auf. An einem Morgen, da er seine wenigen Habseligkeiten nicht verpackt und seine Lasttiere nicht beladen hatte. Er fand seinen Platz für die Ewigkeit im Sandmeer der Sahara. Und die hölzerne Tafel, welche darauf lang, trug nur über wenige Jahre die Inschrift: "Er kam aus der Ferne in die Fremde. Und kehrte in sie zurück. Geliebt hat er Tiere, deren Gestalt wir nicht kennen. Möge er ihnen in der Unendlichkeit Gottes wiederbegegnen". Dann löschten Sand, Sonne und Wind den Text aus. Doch un- ter den Nomaden erzählte man sich noch lange die Geschichte des Fremden. Der es so sehr liebte in der Dunkelheit des Abends und der Nacht am Feuer zu sitzen. Seine Hände am heißen Tee zu wärmen.  Manch- mal hatte man ihn lächeln sehen, im Anblick der unzähligen Sterne am tiefschwarzen Himmel...

 

Du hast die Geschichte nicht verstanden?

Nun, wer sie versteht, dem muss man sie nicht erklären.

Und wer sie nicht versteht, dem kann man sie nicht erklären...

 

 

Ich war noch niemals richtig frei...

 

 

Thank you for the music, Udo Jürgens. Du warst ein ganz Großer!

Mitten im Erfolg zu gehen, kann man sich mehr wünschen?