Es ist frostig im Haus. Um es ganz gelinde auszudrücken. Nur einen Raum bewohne ich. Oder sollte ich "be- lebe" schreiben? Drei Kerzen brennen, dazu eine Lampe aus rotem Salz, die wunderbare Menschen in Pa- kistan für mich einmal als Unikat angefertigt haben, vor etlichen Jahren. Doch die 15 Watt - Birne darin wärmt nicht, sie erinnert nur an einem Kamin. Wärme. Mein braver 57 g - Kocher, der mir so treue Dienste auf der langen Trekkingtour des vorigen Jahres geleistet hat, brennt auf einem 227 g schweren Gasfläsch- chen. Aber die züngelnde Flamme erweckt nur die Illusion von Feuer. Immerhin ist die Temperatur von 5° am Morgen bis zum Abend auf volle 9° angestiegen...

Irgendwie zerrt der Frost mittlerweile an meinen Nerven. Ich will Wärme, jetzt, sofort und auf der Stelle! Leider kann ich nicht zaubern. Aber hüpfen! Was viel ausmacht, das weiß ich von den letzten kalten Win- tern. Man kann so viele Zwiebelschichten übereinander anziehen, wie der Schrank nur hergibt: wenn man friert, wird es einem davon nicht wesentlich wärmer!  Das Ganze macht nur Sinn, wenn man vorhandene Wärme konserviert... Hüpfen "einfach so" ist öde. Und Langeweile ist so gar nicht mein Ding. Also muss youtube herhalten. Ich suche einen bestimmten Song, in einer Variante, die mich anspricht. Superbingo! Werde ich doch an keltische Musik und Galicien erinnert...

Ich hüpfe um's Bett und zurück, muss aufpassen, nicht zu hoch zu springen, wegen der Deckenbalken, denn darunter beträgt die Raumhöhe ganze 1,80m. Nach einer Viertelstunde in Endlosschleife (der Titel ist mitt- lerweile heruntergeladen auf meinem Computer gelandet) friere ich überhaupt gar nicht mehr. Lange her, dass ich solchen Spaß hatte. Auf Live - Konzerten abgerockt habe. Und wann zuletzt so richtig durchge- tanzt? Die Gedanken schweifen zurück. Bleiben hängen beim Camino 3, 2009....

Es ist mein körperlich leichtester Weg: Ich fliege ihn geradezu. Mit "neuen" gebrauchten Lederstiefeln, die ich mir bei ebay ersteigert habe. Sie passen wie weiche Handschuhe und sind jeden Cent wert. Keine Druck- stelle, nicht die allerkleinste Blase wird mir dieser Weg bescheren. Keine Kopfschmerzen, nicht den Anflug einer Erkältung, mein Magen verträgt den größten Mist (ich trinke z.B. mit Rindviechern gemeinsam aus einer Tränke)... 

Nein, dieses Mal ist es nicht mein Körper, der meine Leidensfähigkeit testet. Denn das hätte mich abgelenkt. Wer Schmerzen empfindet konzentriert sich zwangsläufig darauf. Diese Ausweichmöglichkeit wird mir also zwangsläufig genommen: Mein Geist soll klar sein und ein Bühnenstück erleben, das er nie vergessen wird!! Oberflächlich gesehen könnte ich es so bewerten: viele Weggefährten, bombige Gesundheit, und am Ende tanze ich auf den Stufen vor Sacré Coeur in Paris. Könnte ein Jakobsweg denn überhaupt besser verlaufen?

Er beginnt schon schlecht. Eine Freundin will mit. Der ich zur Verrentung verholfen habe. Meine eigene hin- gegen musste ich mir hart erkämpfen. Es ist die 2.Verlängerung und wenn man sie mir nicht zugestehen würde käme der freie Fall. Denn das weltberühmte soziale Netz der Bundesrepublik gilt nur für Menschen die viel haben. Oder gar nichts besitzen. Frauen wie ich, die fallen durch die Maschen. Allen tue ich irgend- wie leid, aber helfen kann (oder will) niemand... 

Wieder bleibt mir nur der Ausweg Tagesklinik, da ich keine Lust hatte meine Zeit zwei Jahre lang sinnfrei bei fragwürdigen Therapeuten zu verbringen. Dann lieber komprimiert auf drei Monate. Hamburg muss ich nicht wieder haben. Dort gehörte ich in die "Tagesklinik für Senioren". Eben 50+. War die Zweitjüngste. Mit Abstand. Um mich her demente Alte und depressive Witwen. Das hatte ich schon in meinem Berufsleben. Nun stand ich auf der anderen Seite. Mein türkischer Therapeut war ein Glücksfall (Zufall?). Auch, wenn selbst er nicht auf die richtige Diagnose kam. Aber wir rangen und diskutierten miteinander. Im Speisesaal suchte ich mir den "Männer - Tisch" aus. Zufall? Es kam beim Mittagessen zur Messerattacke einer schi- zophrenen Patientin, bei der ich mich schützend über eine schreiende Mitpatientin  werfen konnte, während mein Tischnachbar sich mit seinen ganzen 180 kg Lebendgewicht vor mir aufbaute...

Trotzdem wollte ich mir diese Verwahreinrichtung keinesfalls wieder antun. Entschied mich für die Tages- klinik der Seehafenstadt, nachdem ich alles zum Thema gegoogelt hatte, was irgend möglich war. Manchmal hat man die Wahl zwischen Pest und Cholera, dann wählt man... Wer mein Weblog verfolgt hat weiß, dass diese Zeit keine wahre Freude war. Für beide Seiten. Keine Station freut sich über Kollegen. Und diese nicht über Einrichtungen, deren Mängel offenbar sind...

Diese zehn Wochen waren also eine Leidenszeit. Mit drei Therapeuten. Einem, der ständig Angst hatte. Ei- ner, die ständig Angst verbreitete (und einmal ausgerechnet die Stiefmutter der großen Liebe meines Soh- nes war). Ich hatte relatives Glück und erwischte die jüngste Therapeutin, die allerdings meiner Lebensge-schichte überhaupt nicht gewachsen war. Legte mich mit dem restlichen Personal konsequent an. Heulte daheim im Haus stundenlang, nahm aber den Kampf am Folgetag dennoch wieder auf. Ich hasse es, wenn Ungerechtigkeit herrscht, Menschen ihre scheinbare Macht missbrauchen...

Mein besonderes Augenmerk galt dem Kunsttherapeuten, der sich den ganzen Tag über mit Essen voll- stopfte, das eigentlich für die Patienten gedacht war.  Zeitungen las, die ebenfalls ihnen gehören sollten. Und jede Menge sexistischer Witze losließ, abzielend auf Patientinnen, die ihm nach schweren hirnorganischen Operationen hilflos ausgeliefert waren. Was man mir antut, das vermag ich wegzustecken. Aber Ungerech-tigkeit, die kann ich überhaupt nicht vertragen! Ich nahm den Typen also auf's Korn. Führte ihn in einem geschickt eingefädeltem Rollenspiel vor und gab ihn der Lächerlichkeit preis. Er hatte seine Meisterin ge- funden!

Nie verlor ich mein Ziel aus den Augen: Ich "musste" krank sein. Und es bleiben. Sonst hätte ich meinen Rentenanspruch verloren. Also gab ich mich nicht anders, als ich nun einmal bin. Bloß mit einem kleinen Tupfer obendrauf.  Ich erlebte, wie viele Patienten um mich her zerbrachen. Einfach aufgaben, nicht mehr erschienen. Andere verweigerten das hunderttausendste Medikament ihrer Krankenlaufbahn, verschwan- den auf "geschlossenen Stationen". Auch ich geriet eines Tages zwangsläufig in die Mühlen dieser einseitigen Justiz. "Mitwirkungspflicht des Versicherten" war das Schlüsselwort. Hätte ich abgelehnt...

Also nahm ich das Medikament. Hätte ich es mal gegoogelt! Was wäre dann anders gewesen? So schluckte ich sie. Eine einzige, winzige, weiße Tablette. Und dachte, ich würde weder die Nacht, noch den folgenden Tag überleben. Der Notarzt kam vierundzwanzig Stunden später. Es war zu spät, mir den Magen auszu- pumpen, man konnte nur den Kreislauf stabilisieren.  Spritzte mir zusätzlich ein Schmerzmittel, eines gegen Erbrechen. Kopfschüttelnd. Absolute Unverträglichkeit, nie wieder!!

Es war der pure Horror. Aber das Letzte, was man mir in dieser Hinsicht ärztlicherseits antat. Als ich wie- der in der Lage war die Tagesklinik aufzusuchen, da "packte" ich mir den Doc, als er gerade vorbeiging. Je- nen, der total abgekaute Nägel hatte und ständig zitterte, wenn man ihn ansprach. Der nie Zeit hatte und sich permanent in seinem Büro verbarrikadierte. Ich griff ihn am Pulloverärmel und verlangte ein klärendes Gespräch. Er war einer Panikattacke nahe, aber stellte sich mir. Nie hatte er (angeblich) Zeit gehabt, nun opferte er eine volle halbe Stunde.

Ich setzte mich nicht, nein, ich stand, ging herum! Er verkroch sich hinter seinem Schreibtisch. Auf den ich mich nach meinen Vorwürfen stützte. Ihn fragend, warum man vor der Rentenversicherung Angst hätte,  welche Macht man ihr zuschriebe, ob ich gar nicht zählte, als eben jener Mensch, der ich nun einmal wäre? Er antwortete leise, stockend. Suchte nach Erklärungen. Sprach von Zwängen. Abrechnungsmöglichkeiten. Was ich alles selbst wusste, vom Hospiz. Daher unterbrach ich ihn. "Interessiert mich nicht! Ich will wissen, wie Sie mich einschätzen?!"

Er gab mir eine eigentlich wundervolle Antwort. Eine, über welche ich heute lächeln kann. Weil sie so un- endlich zutrifft. Er war klug, leise, scheu. Gehörte irgendwie nicht in die Welt, in der er sich aufhielt. Nie hat- te er sich Zeit für einen Menschen genommen, war stets geflohen. "Ich habe keine Diagnose", lautete seine Beurteilung, "Sie sind bunt, haben von allem etwas und nichts wirklich. Menschen wie Sie sind das Salz in der Suppe der Welt!" Was auch immer als Urteil stand, im Brief an die Rentenversicherung: Es reichte aus! Ich wurde für immer, alle Zeiten, verrentet. Es würde keine Nachprüfung ein Jahr später mehr geben! Ich müsste keine weiteren sinnlosen Kosten mehr verursachen...

 

Ich dankte Gott, ja, das tat ich!! Wollte zugleich Worte mit Taten unterstreichen.

Was war ein Camino gegen diesen Sieg? Ich gelobte ihn. Den leichtesten Weg?