An Grenzen komme ich im Prinzip schon am allerersten Wandertag. Nicht an die körperlichen, aber an jene der (un)freiwillig übernommenen Verantwortung. Sehr gut ist mir noch in Erinnerung, wie ich zwei Jahre zuvor als Greenhorn losgegangen war. Erfüllt von Vorfreude, aber auch Angst. Ich war allein, übergewichtig, geschwächt durch ein Antibiotikum. Hatte eine lange Zeit der Isolation hinter mir und einen bitteren Kampf um meine Rente.

Als ich damals das Kloster von Roncesvalles erreichte, da war ich bereits erheblich verletzt und völlig ent- kräftet. Die Sorge quälte mich: Würde ich weitergehen können? Wie würde die nächste Etappe sein? Um mich her hundert Menschen im großen Pilgersaal des Klosters. Viele wollten sich mit mir austauschen, setz- ten sich auf mein Bett. Erst heute verstehe ich, warum das Panik in mir auslöste. Denn diese schmale Ma- tratze auf einer blanken Holzplatte war mein Heim, ein bescheidener Schutz. Aber mein Gelöbnis wirkte immer stärker auf mich ein, als alle Ängste. Das half mir damals den Asperger zurück zu drängen.

Meiner Freundin blieb dies alles erspart. Sie kümmerte sich um gar nichts, denn ich war ja dafür da. Wir tranken 2x unterwegs Kaffee, entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten. Aber ich ahnte, dass sie nicht fit war und wollte die schwere Etappe in einzelne Abschnitte einteilen, um sie so zu erleichtern. Auf mich selbst habe ich kaum geachtet. Warum auch? Obwohl es dazu reichlich Grund gegeben hätte...

Den neuen (gebrauchten) Rucksack z.B. Der alte hatte mir überhaupt nicht gepasst und mich auf zwei Cami- nos gepeinigt. Der "Osprey" passte super. Jedoch ist sein Tragegestell völlig anders konzipiert, es besteht im Grunde nur aus einem Rahmen von Metallröhrchen, in Stärke eines Kleinkinderfingers, bespannt mit einem Netz, um Abstand zum Rücken des Trägers zu schaffen. Er war/ist leicht. Aber was würde diese Konstruk- tion aushalten? Wenn z.B. im Bus schwerere Teile darauf geworfen würden? Der Bruch einer Stange hätte sein Ende bedeutet. Aber alle Transporte bis St. Jean in Gepäckräumen hatte er heil überstanden.

 

 

Natürlich war ich mit dem (beladenen) Rucksack zur Probe herumgelaufen. Aber da hatten wir Winter. Und in der Seehafenstadt ging es nirgends bergauf. Das Tragesystem stützt sich mit zwei harten Schaufeln auf den Hüften ab. Wie wäre das in der Hitze und in den Bergen? Mit 11 kg Inhalt und nach vielen, vielen Stun- den? Risiko... Auch die (gebrauchten Ebay-) Stiefel waren eines. Ich hatte sie oft zur Tagesklinik angezogen und war dort in allen Pausen zu Touren auf die Wallanlagen gestartet. Herumsitzen ist nicht mein Ding. Ich fand Mitläufer, das erleichterte die Lauferei. Die Stiefel waren wundervoll. Aber es galt für sie ebenfalls: Was wäre bei 30° und mehr? Nach 25km und mehr?

Der Streit, der sich bei mir im Haus ergeben hatte, der steckte mir ebenfalls noch in den Knochen. Die belei- digende Herablassung, mit der ich und alles was mit mir zu tun hatte, behandelt worden war. Nun war ich nur Tage später mit eben diesem zänkischen Menschen unterwegs. Selbst gerade erst seit einer Woche aus der Klinik entlassen. Eine bittere und harte Zeit von dort verbrachten zehn Wochen lag hinter mir. In der permanenten Sorge, was aus mir werden sollte, wenn mein Rentenanspruch nicht verlängert  würde.

Auch, wenn sich das erfüllte, so blieb das alles nicht in meinen Kleidern hängen. Es lag mir auf der Seele. Ich hätte dringend Zeit gebraucht, mich von diesen Belastungen zu distanzieren und frei zu laufen, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch die hatte ich nicht. Es war alles vorherbestimmt. Denn wäre es anders gewesen, so wäre mein Weg ein ganz anderer geworden. Aber es sollte eben haargenau so sein,  wie es war. Wir Men- schen lernen nicht leicht aus unseren Fehlern, sind wahre Meister der Verdrängung. Weil wir nicht aus einem Abstand heraus auf uns selbst zu schauen vermögen. Sonst hätte ich längst zuvor erkannt, dass...

Es folgen meine Originaleinträge aus dem Wandertagebuch. Alle Gedanken und Gefühle sind für mich wie- der fast real greifbar. Wie sehr viele Asperger Autisten denke ich in Bildern. Empfinde alle Geräusche und Gerüche von damals problemlos. Ich bin wieder dort. Eben darum schreibe ich "auf Raten". Weil mich die Erinnerungen schier umwerfen. Leugnen zwecklos. Gestern habe ich sehr viel geweint. Kälte, ewige Dunkel- heit  und Weihnachtszeit liegen schwer auf meinen Schultern, mehr als es der Osprey je könnte. Ach, wäre es doch nur schon Januar...

 

 

 

Abschied am ZOB Hamburg, 22.April 2009

 

Abend des nächsten Tages nach laaaanger Fahrt, St. Jean Pied-de-Port, Frankreich

 

Aufbruch von der Herberge, 24.April 2009, 7.30 Uhr

 

Ab jetzt 800 km immer gen Westen...

 

Kurz vor dem Pass und somit der Grenze zu Spanien


 (Nicht von mir, aber es zeigt einen Teil des riesigen Schlafsaals u. den morgendl. Pilgeraufbruch im Kloster)

 

Der Weg hielt mir von Anfang an seinen unsichtbaren Spiegel vor. Doch ich sah nicht hinein.

In ihm hätte ich meine Mutter und meine Schwester gesehen. Ihre Boshaftigkeit, den Egoismus.

Worauf ich exakt reagierte wie damals. Aber es war nur das 1. Lehrstück eines langen Weges...

 

 

 

Er wird viel später in Paris enden. Wo ich tanze und trauere. Immer noch ohne zu verstehen warum...