Unser Wandertag begann, wie praktisch alle zuvor. Der junge Mann in unserem Zimmer war bereits in der Morgendämme- rung aufgebrochen. Er wollte 30km laufen, eventuell mehr. Meine Freundin hätte 20km mit viel gutem Willen gepackt, also war das Tagesziel klar. Wie schon beschrieben, war die Herberge im September 2007 gut besucht, obwohl 300m vom Cami- no entfernt, seitwärts in den Feldern versteckt. Das war nun - im Mai 2009 - allerdings ganz anders.

Die Bauersleute hatten - vermutlich in Ermangelung zahlender Pilger - aus den Doppelstockbetten die jeweils oberen Rahmen und Matratzen entfernt (verkauft?) und Bretter eingelegt. Praktisch, da man darauf wunderbar den Inhalt seines Rucksacks ausbreiten und ordnen konnte. Für mich kein großes Thema. Auf dem zweiten Camino hatte meine junge, niederländische Wegbegleiterin gern zu erstaunten Zuschauern gesagt: "We are well organized!" Und das waren wir auch. Mir war und ist gänzlich unverständlich, wie Wanderer ihr Hab' und Gut sinnfrei in Plastiktüten stopfen, diese wieder ausräumen, wühlen, die nächste ausschütten, um nichts zu finden. Undenkbar für einen Asperger. Er würde zuerst verzweifeln, dann durchdrehen und zuletzt komplett aus der Situation flüchten. Bei mir sah es also so aus:

 

 

Die Tasche oben links enthält übrigens sämtliche Bekleidung, einschließlich Wandersocken, Unterwäsche, Mütze, Shirts, der Shorts, der Wechselhose usw. Unten an 2.Stelle von links meine Tasche für Medis und Verbandsmaterial, immer gut bestückt, da es allüberall Verletzte und Verwunderte zu versorgen gilt. Im Netzbeutel mein Handtuch (ist so eine Art großes Staubtuch), darüber mein Tagesrucksack (schließlich will man vor Ort bummeln und einkaufen), darüber der Schal (ich friere schnell). Ganz oben der Rother - Wanderführer und mein Pilgerausweis. Rechts unten in schwarz die Rucksackhülle, darunter das Brillenetui und ganz unten mein "Büro", also Tagebuch, Schreibzeug, etc. In den beiden restlichen Taschen Equipment, also alles für's Handy, die Kamera, der MP3- Player, ein Mini - Stativ, etc. Dann Hygieneartikel, wie Shampoo, Bürste, Sonnenmilch, Deo. Man kann mich in stockfinsterer Nacht wecken und mich bitten die  Nagelschere blind hervorzukramen. Kein Thema. Ich habe nur eine schmale Tasche im Set...

Das Tagesziel stand schon am Vorabend fest. Es kam nur eines infrage, also Thema durch. Wir konnten uns Zeit lassen, un- terwegs mehrfach rasten, für mich wäre es ein Spaziergang. Meine (gebraucht über ebay ersteigerten) Stiefel waren Gold wert. Ich liebte sie regelrecht. So weich und anschmiegsam! Aber nicht ganz leicht, typisch LOWA eben. Im Rucksack wusste jedes Teil wohin es gehörte und flutschte fast von selbst an Ort und Stelle. Startbereit!

Meine Freundin bastelte vor sich hin. Wie immer. Mit dem stumm anklagenden Blick, den ich inzwischen nur zu gut kannte. Als dann doch ein Satz fiel, war er nicht freundlich: "Jetzt habe ich Herpes am Mund, das kommt von dem ganzen Dreck über- all!" Zunächst einmal war das eine pure Information und ich hätte denken können: "Tja, Pech gehabt! Leben passiert nun einmal!" Aber ich hörte natürlich etwas ganz anderes: "ICH habe Herpes und DU trägst die Verantwortung, es ist kein Wun- der bei all' dem Dreck, zu dem DU mich hinführst!" Es waren die uralten Schuldgefühle, die man mir erfolgreich von frühester Kindheit an eingeprügelt hatte: "Mir geht es nicht gut und du trägst die Schuld daran!"

Hatte immer schon funktioniert. Und tat es auch an diesem Morgen. Man erkor mich ungefragt zum Beschützer. Und ein Ei- genleben gestattete ich mir nur, wenn der zu Betreuende im Bett und versorgt war. Darüber hatte ich vergessen (oder nie gelernt?), was eigentlich meine eigenen Bedürfnisse waren. Die tibetanische Gebetsmühle drehte sich ohne Unterbrechung. Und ich kannte (noch) kein Rezept, wie ich sie würde anhalten können...

So wich ich also aus, auf die Etappenplanung. Wir schlugen beide unsere (identischen) Wanderführer auf und schauten uns die Datenblätter an. Dazu muss man sagen, dass es zwei konkurrierende Bücher für den Jakobsweg gibt: das hier schon ge- nannte aus dem Rother - Verlag, tatsächlich mit rotem Umschlag und ein gelbes. Die Eigner dieser Ausgaben streiten stets neu darüber, welcher nun besser sei. Ich enthalte mich, denn jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Für mich kommt nur mein Buch infrage, weil es das enthält, was ich speziell brauche: Klare Informationen. Eine Anleitung für Dummies.

Nach menschlichem Ermessen konnte überhaupt nichts schiefgehen! Erstens läuft man den gelben Camino - Pfeilen nach, die man nur übersieht, wenn man vor sich hin träumt. Sollte das passieren, kriegt man ziemlich rasch mit, dass irgendetwas nicht stimmt. Oder wird von den Einheimischen mehr oder weniger lautstark in die richtige Richtung gewiesen: "Camino aqui! Aqui! Aqui!" Das muss ich betonen, damit man versteht, warum in diesen Tag irgendeine Hand ordnend (oder regelnd?) eingegrif- fen hat. War da nicht ein flehentliches Gebet am Vorabend? "Bitte mach' irgendwas, ich kann so nicht mehr!"

Zurück zum Rother. Beide Bücher lagen nebeneinander und wir schauten gemeinsam auf die 1.Karte:

 

 

Ihr seht diese Art von Karte zum ersten Mal. Also erkläre ich sie. Der gelbe Strang ist der Verlauf der Bundesstraße, die rote Linie der Jakobsweg. Es ist eine der einfachsten Strecken überhaupt, denn der Camino entfernt sich von der Straße nicht in Waldgebiete, Bergbereiche oder sonstige entlegene Landschaftgebiete. In der unteren Hälfte (ziemlich mittig) erkennt man unschwer unseren damaligen Standort Villamayor del Rio, bzw. das gefüllte schwarze Häuschen, das die genaue Lage der Herberge anzeigt. Wir mussten also auf der gestrichelten Linie wieder zurück zum Hauptweg und dann in Richtung Belorado laufen. Denn der Jakobsweg verläuft durch Spanien von rechts (Osten) nach links (Westen /Atlantik).

Die Entfernung beträgt laut blauem Kästchen 4,8km plus unserer 300m also rund 5km. In Belorado gibt es laut Karte vier Herbergen (gefüllte Häuschen) und Pensionen / Hotels (weißes Häuschen), sowie eine Kirche. Dazu erkennt man einen Bus (es gibt also eine Verbindung von dort) und das Kreuz für ärztl. Versorgung / Gesundheitsstation. Im Buch kann man sich zudem jede Menge an Infos anlesen, zur Strecke allgemein, den einzelnen Orten und Herbergen. "The way of St.James for beginners!" Es hätte alles so schön sein können... das Wetter war gut... die Vögel in den Feldern sangen.. Aber ich hörte nur das Gestampfe und Gemeckere neben mir. Kein Kaffee! Sowas aber auch, hätten diese Bauern dafür nicht aufstehen können? Usw.

In Belorado gibt es Bars ohne Ende, also Kaffee. Das spanische Frühstück kann man aber bekannterweise vergessen. Meis- tens wird ein Magdalena gereicht, so eine Art Mini - Sandkuchen. Naja, seehr mini. Mit viel Glück werden bocadillos angeboten Im Prinzip ein Sandwich. Mit Käse, Schinken oder etwas in dieser Richtung. Manchmal auch tostada, also eine Scheibe Toast mit einem Tupfer Marmelade. Süßkram gibt es natürlich praktisch immer, wie in deutschen Kneipen auch, es wird also nie- mand verhungern. Natürlich hatte ich die falsche Bar ausgewählt. Was mit Wortlosigkeit in verschärftem Maße geahndet wurde. Der nächste Weg führte also zu einem Bäckerladen. Wo ich mich sofort lecker bedienen konnte, meine Freundin aber nichts fand, was ihren Ansprüchen gerecht wurde. Am Ende aß sie knurrend aus meiner Tüte.

Ich bin ehrlich: Mich überkamen Mordgelüste! Jetzt, sofort und gleich zu vollstrecken. Wie hätte meine gute Fee gesagt: "Hätt' ich's doch damals getan, die Strafe dafür hätte ich längst auf einer Backe abgesessen!" Ich dachte an sie, wie so oft. Wie sie immer alles auf den Punkt brachte, während ich verkopft herumhaspelte. Was sie mir raten würde, das war also klar.

So nahm ich auf unserer Rast - Bank allen Mut zusammen und den Rother aus der Hosentasche. Schlug die nächste Seite auf: "Hier sitzen wir also gerade und dort wollen wir hin, nach Villafranca Montes de Oca." Ich umkringelte vorsichtshalber den Ortsnamen in unseren beiden Büchern. "Von hier aus sind es also ganze 12 km bis dorthin, allerdings ansteigend, von jetzt 772 Höhenmetern auf am Ende 945m." Was ich nicht aus dem Ärmel schüttelte, sondern leicht dem klugen Rother entneh- men konnte:

 

 

Sagte ich schon, dass dieses Buch idiotensicher ausgestattet ist? Man findet also als Ergänzung zur Karte und der wirklich gu- ten Wegbeschreibung auch noch Höhenprofile. Dieses war nun  das zuständige. Ganz oben sieht man grün die noch zu lau- fende Entfernung bis Santiago und jene des Tageszieles. Man kann sie also leicht errechnen. Was die Häuschen bedeuten ist schon erklärt. Überall dort könnte man ab- oder unterbrechen, wenn man es denn wollte. Gabel und Messer erklären sich ebenfalls von selbst, die Höhenmeter auch. Dazu findet man ganz unten Zeitangaben. So kann man ablesen, wie lange man bis zur nächsten Bar / Herberge zu laufen hat. Und kann bei Bedarf stets neu entscheiden: "Bleibe ich hier, oder läuft mein Turbo noch rund?"

Das beantwortet auch eine klassische Frage zum Camino: "Wie weit geht man denn da?" Nun, das ist wie bei normalen Spa- ziergängen auch. Da weiß man meistens ebenfalls, wo der enden soll. Wenn man kaputt ist und einen Bus entdeckt, oder weil man ein schönes Ziel mit Kaffee und Kuchen eingeplant hatte. Das ist auf dem Camino nicht anders. Wie fit bin ich, was traue ich mir zu? Wo gibt es (meistens jedenfalls) im Pilger - Fall nicht Kuchen, aber einen Schlafplatz? Damit ist alles beantwortet. Busse gibt es eher spärlich. Und oft nur alle paar Stunden mal. Wenn Menschen zur Arbeit fahren, oder heim wollen.

Von Belorado nach Villafranca läuft man also ungefähr noch drei Stunden. In der Beschreibung steht: "Mittelschwer." Klar, es geht aufwärts. "Montes de Oca" bedeutet nämlich nichts anderes, als "Berge der Gänse". Und Berge sind nun mal oben. Ei- gentlich logisch. Und in Wanderstiefeln, mit einem schweren Rucksack beladen, sprintet man nicht einfach so locker durch die Gegend. Schon gar nicht bei Hitze. Und die brach durch. 

Es gab also keine Alternative. Die nächste Herberge nach Villafranca war und ist laut Karte das Kloster San Juan de Ortega. Nicht gerade eine Perle des Weges, warum erkläre ich noch. Außerdem lag es von Belorado aus mehr als 6 Stunden Wan- derzeit und 24,6 km entfernt. Das hätte meine Freundin niemals gepackt. Wir wären auf eine Tagesstrecke von über 30 km gekommen, das überschritt ihre Kräfte bei weitem... Dann sprach ich den Satz des Tages: "Mein Tempo ist dir zu hoch, un- terhalten möchtest du dich ohnehin nicht. Mich wiederum nerven deine Stiefelgeräusche. Was hälst du davon, wenn wir heu- te mal getrennt laufen? Es kann überhaupt nichts passieren, da es quasi immer an der Nationalstraße entlang geht. Und Pfeile stehen zudem alle paar Meter!"

Sie nickte. Ich jubelte innerlich und wir machten aus, dass ich vor der Bar von Espinosa sitzen und Kaffee schlürfen würde (direkt am Weg), um den Rest gemeinsam anzugehen. Das bedeutete für mich einen Freiraum von mindestens 2 1/2 Stun- den, beim Tempo meiner Freundin eher mehr...

 

Welche Erleichterung! Ich rannte förmlich los, sang und tanzte vor Freude vor mich hin.

Gott hatte mich erhört! Doch wie heißt es so treffend:

"Hüte dich vor deinen Wünschen - sie könnten in Erfüllung gehen." Und genau das passierte.

 

 

 

Der Camino gibt Dir das, was Du brauchst. Und nicht das, was Du willst!

Offenbar brauchte ich so einiges. Im Notfall mit der Zaunlatte auf den Hinterkopf...