Drei Tage und drei Nächte... Bis jetzt haben wir uns geküsst wie gute Freunde. Mehr war nicht. Das wird sich an diesem Wochenende verändern. Aller Voraussicht nach. Es würde sonst aller Lebenswirklichkeit wi- dersprechen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen 17 Jahren, oder 50 plus. Wie könnte/würde das sein? Das ist eine Vorstellung, die mir einfach nicht in den Kopf will. Vielleicht, weil mir dazu etwas fehlt. Ein Ge- fühl, das alle Sinne benebelt, mich in den Rausch eines Augen - Blicks ziehen könnte. Doch, so ist es nicht. Zum ersten Mal erkenne ich so richtig, wie sich mein Asperger auswirken wird. Jetzt, da ich um ihn weiß. Ihn immer weniger zu leugnen vermag.

Mit G.O. war alles anders. Was ich keinesfalls nur positiv meine. Ich erinnere mich sehr gut an alle Schat- tenseiten. Trotzdem bleibt die Erinnerung an eine leidenschaftliche Liebe zurück. Vielleicht geht es dabei gar nicht so sehr um ihn. Sondern um alles, was er in mir ausgelöst hat. Einen Erdrutsch. Der völlig uner- wartet und unverhofft eintrat, in jenen Maitagen 2007, als mein fast sechswöchiger Jakobsweg kurz vor der Erfüllung stand, dem Ziel: Santiago de Compostela. Die Erfahrung eines mittlerweile mehr als sechs Jahr- zehnte lang andauernden Lebens hat mir gezeigt: Ganz oder gar nicht! Da ist er wieder, der Asperger. So lauwarm weichgespült, das geht überhaupt gar nicht. Schon überhaupt nicht bei Gefühlen. Entweder ich liebe. Oder nicht.

Das Thema Gefühlsaufwallung als Tsunami hat sich für mich erledigt. Brauch' ich nicht (mehr). Will ich nicht (mehr). Das ist abgeschlossen. Und ich bereue es nicht. Weil es mich von vielem erlöst. Endlich Zeit auf mich zu schauen. Woran habe ich Freude? Welche Ziele gibt es? Ich. Ich. Ich. "Gesunden Egoismus" hast Du es genannt, liebe Regi. Das Geschehen außerhalb meines Hauses ist notwendiges Übel. Der Trubel einer Welt, mit der ich fast nichts zu tun habe. Oder sie mit mir nicht? Ich bin anders. Und trage das mitt- lerweile wie eine schmale unsichtbare Krone. Zu sein wie ich bin hat mir viele Pforten geöffnet. Macht mich aus. 

Er kommt später als verabredet. Erschöpft, müde, angespannt, kam einfach nicht weg. Die Auftraggeber gehen vor. Dies sollte noch unbedingt und jenes. Das hat ihn unter Druck gesetzt. Mittlerweile habe ich in den Boden der maroden hölzernen Terrasse auf der Höhe der 1.Etage mit der großen Säbelsäge eine recht-eckige Öffnung geschaffen, vorsichtig im Türrahmen knieend. Unter mir gähnt nun eine Fallhöhe, die ich nicht ausprobieren möchte.

Peter schimpft. Ich solle mich nicht in Gefahr bringen. Ihm wenigstens einen Kaffee anzubieten, darauf komme ich gar nicht. Er ist frisch geduscht und angezogen, gerade erst aus den Arbeitsklamotten heraus. Nun zieht er sie wieder an. Und legt los. Welche Kraft steckt in diesem Mann! Da kann ich nur staunen. Bald steht er auf vielen hölzernen Trümmern und überragt sie. Er ist einfach mächtig groß. Doch nun geht es nicht weiter. Man kann in diesem Chaos nicht mehr mit der Kettensäge arbeiten. Wir entscheiden, dass am Samstag ein Hänger muss.

Wer das Abendessen liebevoll eindeckt und zubereitet ist wohl klar. Ein neuer Blumenstrauß steht auf dem Küchentresen. Hortensien. Meine Lieblingsblumen. Für (s)eine Prinzessin nur das Beste. Duschen, umzie- hen, endlich Feierabend. Haben wir etwas zu feiern? Wir belagern das Ecksofa im Wohnzimmer. Wo ich bisher noch fast nie gesessen habe. Wäre auch ziemlich gruselig allein. Außerdem nur an fünf Monaten des Jahres überhaupt möglich...

Peter plant. Das Bad unter dem Dach soll komplett neu werden, da reißt er alles raus und baut etwas Schö- nes ein. Wärme muss her. Der Berlingo soll... Der Laden... Eine neue Duschwanne kommt ins "große" Bad unten (die jetzige hohe ist ein Einstiegsproblem für mich mit dem schmerzenden Bein). Dort erfreut mich täglich das neue Fenster. Endlich keine kaputten Scheiben mehr, durch die es so fürchterlich zog. Nur su- perhell ist es jetzt. Das soll geändert werden. Notiert er sich auf der to - do - Liste. Dann muss das Strom-problem gelöst werden. Da will er Lampen mit Akkus zur Überbrückung installieren. Und dann wäre da noch... Und... Ach ja, da sind noch mehr Baustellen...

Permanent habe ich ein unangenehmes Gefühl. In seiner Schuld zu stehen. Nichts zurückzugeben. Jeden- falls vielleicht nicht das, was er sich wünscht. Warum er all' das tut, was er eben macht, das ist mir klar. Seine Augen sprechen Bände. Seine Worte. Sein Lächeln. Wie er mich vorsichtig berührt und immer wieder sagt: "An dir ist alles so klein und zierlich!" (Was möchte eine Frau, die sich wie eine gestrandete Seekuh fühlt, denn auch lieber hören?! Bitte mehr davon, ja!!!). Im Vergleich zu ihm wirke ich vermutlich so. Regel- recht klein. Seine Hände sind um die Hälfte größer als meine, das messen wir lachend ab. Und auch sonst könnte ich mich als unsichtbar hinter ihm verstecken.

Bis zum Morgen sind wir wach. "Wie spät ist es?" Er schaut auf die Uhr: "Gleich sechs!" Hilfe... Ich schrecke von einem sanften Kuss hoch. "Ich bin gleich wieder zurück, schlaf' weiter." Was sehen meine verquollenen Augen? Peter fertig geduscht und frisch gewandet, mit dem Autoschlüssel in der Hand. "Wohin willst du und wie spät ist es?" Er will nach Leer fahren und seinen Hänger holen. Die Uhrzeit? Sieben Uhr. Das kann nicht wahr sein!! Dieser Mensch ist keiner. Sondern irgendwie ein (Arbeits-) Tier. Ich kippe sofort wieder weg, als er aus dem Raum und gegen halb neun zurück ist. Um für das Frühstück einzudecken. Was wir auf "danach" verschieben. Womit Arbeit gemeint ist, was auch sonst?!

Der Nachteil eines Reihenhauses (wenn auch historisch): Man muss durchs Objekt, um vom Hof zur Straße zu kommen. Toll, mit verfaultem Holz. Aber es kommt eine schützende Decke über die Küchenzeile. "Schau mal, da hat meine Oma ihren Namen eingestickt, diese Decke hatte sie am Ende mit im Altersheim..."  Eine große Hand fährt zärtlich über jeden einzelnen Buchstaben. Und wieder einmal gewinnt der Mann neben mir an Boden. Er ist liebevoll, mag seine Söhne, die Eltern und Geschwister. Seine Schäden hat er aufgear-beitet, denkt an alles was gut war. Und sagt mir immer wieder, wie sehr er sich das wünscht. So gemein- sam alt zu werden. Miteinander. Hand in Hand. Was er damit ausdrücken will, das verstehe ich. Und erinne- re mich, dass dies auch einmal meine Gedanken waren. Mit einem Mann, der längst vollendete Vergangen- heit sein müsste...

Wieder ein Sprung in die Tiefe. Ich bekomme angereicht, nehme oben in der Balkontür entgegen, staple. Ist das Zeug ekelig, stinkt, bröckelt auseinander! In kürzester Zeit schaut meine Küche aus wie ein Hand- granaten-Wurfstand. Na prima! Aber es hilft ja nichts. Peter klettert hoch, geht nun zur Treppe. Ich schle- ppe die Teile jetzt dort hin, er nimmt sie an, trägt sie zum mitgebrachten Anhänger. Der füllt sich rasch. Die Taschen mit der von mir zersägten alten Haustür treten gleich mit die Reise ins ewige Holz - Nirwana an.

Das ausgebaute Badfenster lädt Peter gleich auch noch ein. Er sieht einfach alles... Die großen Teile tragen wir gemeinsam hinaus, stapeln, ziehen ein Netz über den Anhänger, verspannen Sicherungsgurte. Auf geht es zurück nach Leer zum Müllplatz, während ich versuche das Haus in Ordnung zu bringen und der Dreck- mengen Herr zu werden. Müde und kaputt. Aber natürlich geht es weiter. Baustelle um Baustelle. Rasch ist es Abend. Emder Hafenmeile. Da wollen wir hin, ein Bier trinken. Nachdem mir wieder einmal das Abend- essen fertig vorgesetzt wurde. immer mit kalten und warmen Speisen. Aus meinen einfachen Lebensmitteln viel gemacht und mit mitgebrachtem ergänzt.

Vor der Kulisse bekommen wir einen Tisch ganz vorn. Fände ich unter anderen Umständen äußerst sub- optimal. Aber sie sind ja, wie sie sind. Ich bin beschützt. In jeder Sekunde. Denn der Mann neben mir hat nur Augen für mich. Es fällt mir unbewusst auf. Die Jugend der Seehafenstadt ist unterwegs, Scharen auf- gebrezelter Mädchen im Minirock mit tiefen Ausschnitten stöckeln vorbei. Er opfert ihnen keinen einzigen Blick. Ich bin da gebranntes Kind, deshalb achte ich darauf. Fast zwanzig Jahre lang habe ich solche Situa-tionen ganz anders erlebt...

Apropos ganz anders. Peter trägt ein schönes Hemd, ich habe ihm seinen Pulli locker über die Schultern gelegt und die Ärmel verschlungen, das kannte er gar nicht. Überhaupt so vieles nicht. "Es ist ein ganz an- deres Leben mit dir", sagt er, "ich lerne ständig etwas Neues kennen." Er sieht richtig gut aus, objektiv ge- sehen, so entspannt und ohne Brille. Ich bin stolz auf den Mann an meiner Seite. Das ist doch schon etwas! Ein betrunkener Junge setzt sich ausgerechnet zu uns, wir nehmen es mit Humor. Und ich freue mich, dass da jemand so entspannt und lächelnd reagiert. Wir haben beide Söhne und sind nachsichtig.

Wir bummeln heim, an den Bühnen vorbei, von denen Musik für jede Generation gespielt wird. Es regnet gerade mal nicht und ist relativ warm. Fast so etwas wie ein Sommerabend. Fast. Wie so vieles "fast" ist, zur Zeit. Aber irgendwas fehlt... Diese Nacht bringt eine Wende. Damit war zu rechnen. Und was ich be- fürchtet hatte tritt ein. Drei Worte fallen. Mit Zusatz, um die Intensität zu verstärken. Große Augen schauen mich in der Dunkelheit fragend an. Ich küsse ihn. Aber antworte nicht. In einer Frau würde es jetzt rattern. Er ist aber keine. Oder will sich vielleicht nichts anmerken lassen...

Frühstück. Wieder hinlegen. Ich höre viele sehr liebe Gedanken. Werde gefragt ob ich die Eltern in Mecklen- burg kennenlernen möchte. Und nicke. "Mit dir ist alles so schön, du bist so lieb!" Bin ich ja auch. Ich bin auch zärtlich und kuschele gern. Fühle mich geborgen, mag so daliegen in seinem Arm, den Kopf auf sei- ner Schulter. Spüren, dass er glücklich ist. Was auch mir ein gutes Gefühl gibt. Die Mama erfährt von mir. "Sie heißt Gabriele." Antwort: "Eine Gabriele hatten wir noch nie in der Familie..." Daher hat er also seinen trockenen Humor! Ich werf mich weg, mag sie, das weiß ich sofort. "Du wirst bald Teil einer großen Familie werden!" Das Lachen erstirbt mir.

 

Was ich jetzt sagen sollte / müsste, das ist mir klar. Aber ich möchte ihn nicht belügen...

Das hat er nicht verdient!! Er ist grundehrlich, fleißig, liebevoll. Fast schmerzt das.

Gestern sagt er: "Ich habe so hart um dich gekämpft. Aber es hat sich gelohnt!"

Ob er spürt, dass dieser Kampf noch nicht vorbei ist und vielleicht kein Ende haben kann?

 

 

 

Wir werden auf den Caminho Portugues gehen. Von Porto nach Santiago.

Er möchte unbedingt ein Weblog zum Weg. Weil er stolz ist. Auf sich. Und mich.