Fünfzig Stunden am Meer. Fünfzig Stunden lang ein mir im Grunde fremder Mensch an meiner Seite. Es fällt mir auf, dass ich nicht "Mann" schreibe. Warum? Vielleicht will ich das nicht. Möchte ihn als Neutrum sehen. Aber das ist er nicht. Vermutlich ist mir alles viel zu schnell, zu eng, zu nah. Dafür kann ER nichts. Es ist mein Asperger, der "Alarmstufe rot" meldet...

In der ersten Nacht schlafe ich keine einzige Minute. Was heißt Nacht, wir haben bis sechs Uhr morgens geredet, da ist es längst wieder hell und durch die Dachluke des Wohnmobils fällt viel Licht direkt auf mich. DAS geht gar nicht. Die Enge auf der Liegefläche auch nicht. Aber vermutlich kommt sie nur mir so vor. Wann bin ich einem Mann zuletzt so nahe gekommen? 2009, dritter Jakobsweg, John. In Paris. Seitdem...

Es hat mir auch nicht gefehlt. Ganz im Gegenteil. Ich hab' mich immer mehr abgeschottet. Es gibt eine Welt "da draußen" und meine. Die ist anders. Stiller. Sortierter. Aber voller Kreativität und Fantasie. Sie gehört nur mir. Und da draußen hat es mir nicht mehr gefallen. Seit der Diagnose. Weil ich mehr und mehr ver- standen habe, warum ich bin, wie ich bin. Und eben: Wie ich bin...

Hätte Er gar keinen Versuch gestartet mir doch entgegen unserer Absprache näher zu kommen, hätte ich es vermutlich auch eigenartig gefunden. Dass er es versucht, kann ich ihm nicht ankreiden. Und er akzeptiert auch sofort, was ich ablehnend sage. Weil es ihm um viel mehr geht, als  das, sagt er. Ich denke nach, bis er Stunden später aufwacht. Bin müde, habe Kopfschmerzen. Schlafe am Nachmittag. Allein. Bekomme Ge- tränke ganz leise hingestellt: "Für Dich, Prinzessin." Falscher Spruch. Er weiß es nicht. Woher auch könnte er ahnen, dass einmal ein anderer Mann...

Heute wieder Kopfweh. Super. Macht einen tollen Eindruck. Dazu mussten wir auf den Strandtickets die Ge- burtsdaten eintragen. Auf EINER Seite. ER hat zuerst geschrieben. Und ist noch jünger, als ich dachte. Bin ich noch älter, als er vermutete? Mist! Er erwähnt es wenigstens rücksichtsvoll nicht. Fragt nach meinem As- zendenten. Löwe. Er auch. Das hätte ich blind raten können. Passt hundertpro zu ihm. Er steht immer so- fort im Mittelpunkt, ist selbstbewusst, laut, lacht gern und ist mächtig groß. Man kann ihn nicht übersehen. Jemand, um sich anzulehnen. Einer, der beschützt. Ich will aber weder noch. Pech. Für ihn. Aber vielleicht auch für mich...

Man hält uns für ein Paar. Logo. Warum nervt es mich? Er umschifft alle eventuellen Peinlichkeiten auf sei- ne Art. Nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Er ist das Gegenteil von mir. Fühlt erst, denkt dann. Kann sein, dass gerade das gut ist. Ich erzähle von Freunden. Edward. Peter Würl. Und sage seltsamerwei- se mehrfach "Uli" zu ihm. Was mich wundert. Aber da ist eine Erinnerung an eine andere Tour wieder le- bendig geworden. Vielleicht ist es eine irgendwie ähnliche Situation. Und doch ganz anders.

Wir verabreden am Monatsende eine längere Müritztour zu machen. Beginnend in Laboe, über Fehmarn, Kühlungsborn usw. Mit einem Wohnmobil kann man bleiben wo man will. Man hat sein Zimmer dabei. Das ist schon witzig irgendwie. Eine Woche? Zehn Tage? Man wird sehen. Ob es bleibt, wie es ist. Mit Respekt und Abstand. Sonst wäre ich weg. Wovor fürchte ich mich eigentlich? Vor Nähe! Einengung! Das ginge gar nicht.

Wir bringen meine Sachen ins Haus. Die große Segeltasche. Das Fahrrad. Am Freitagabend wollen wir mongolisch essen. War fest abgesprochen. Plötzlich sagt er: "Ist noch so lange hin! Am Mittwoch komme ich mit den Leisten für's Fenster!" Will ich das? Erst einmal schlafen. Aus dem Flur höre ich das Telefon läuten. Sehr lange. Und eine Viertelstunde wieder. Ich schließe die Tür, das Geräusch aus. Er versucht es über Stunden. Eine andere Kontaktmöglichkeit hat er nicht. Es nervt mich. Weil ich ahne, was er mir viel- leicht sagen möchte. Und ich nicht hören will. 

 

In Abwandlung eines alten Spruches:

Einen Handwerker hatte ich gerufen und ein Mensch ist gekommen. Gerade dieser.

Ein Zufall. Ach, da fällt mir ein: An so etwas glaube ich ja gar nicht...

Das Problem ist nur: Meine Gefühle gehören einem anderen. Den ich noch immer vermisse.