Kapitel 2




Sein oder nicht sein





So schnell würde es wohl keine Antwort geben. Wenn überhaupt... Trotzdem denke ich darüber nach, was ich da eventuell auf den Weg gebracht habe. Wo befindet sich überhaupt der Firmensitz? Im In- oder Ausland? Bekommt man eine kleine Wohnung zur Verfügung gestellt, mit Küche und Bad? Oder ein möbliertes Studentenzimmer? Wie hoch würde das Gehalt sein? Wohin gingen die Reisen? Mit wem träte man sie an? Wie würde alles vertraglich abgesichert sein?
Unendlich viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Warum bin ich auch oft so spontan?! Aber es zwingt mich ja niemand zu etwas, selbst wenn ich einen Vorstellungstermin bekäme. Komisch, dass man im In-ternet rein gar nicht über den neuen Reiseveranstalter findet, der müsste doch ein natürliches Interesse daran haben für sich zu werben?! Oder sind es nur Urlaubstester, was erklären würde, dass sie unbekannt bleiben möchten?
Als Alter hatte ich 60plus angegeben. Und auch, dass ich Autistin bin. Beides ließ Interpretationen und Spekulationen zu. Hätte ich nicht besser dieses oder jenes geschrieben? Es ist aber wohl oft so, wenn man eine Nachricht endgültig abgeschickt hat. Plötzlich kommen immer mehr Zweifel auf. Ich hätte dieses oder jenes weglassen können. Oder ergän-zen. Aber jetzt ist es definitv zu spät für alle Korrekturen!
Auf jeden Fall ist nichts mehr zu ändern und wie so oft in meinem Leben holt mich rasch die Wirklichkeit ein und ich denke nur noch pragma-tisch. Denn ein Schritt auf die Waage im Badezimmer zeigt mir deutlich: Eindeutig müssen ein paar Kilos runter! Mit Reisen verbinde ich Strand-urlaub, Bikinis und leichte Flatterröckchen. Aber nicht mit 70 kg...
Kein Wunder, wenn man sich zu wenig bewegt! Als Kind (und viele Jahre später noch) war ich rappeldünn und immer schnell unterwegs, egal ob auf den eigenen Beinen, mit Roller, Fahrrad, auf Skiern oder mit Schlitt-schuhen. Rasch zu essen und zu reden, zügig zu arbeiten und zu ent-scheiden kamen später hinzu. Und nun das!
Irgendwann hatte ich begonnen mehr zu sitzen, zu liegen und zu essen. Eine Folge davon, das gewohnte Arbeitsleben aufgegeben zu haben? Schlicht deshalb, weil ich älter wurde? Weil ich mir überflüssig vorkam? Keinen Sinn mehr in sportlicher Bewegung sah? Das durfte ich auf kei-nen Fall länger zulassen, ganz gleich, was sich durch das Inserat erge-ben würde, oder nicht: Es war auf jeden Fall ein Weckruf!
Die vor vielen Jahren in Hamburg erworbenen Laufschuhe für einen Ma-rathon werden hervorgekramt, entstaubt und übergestreift, sie passen noch immer wie angegossen. Was man von meinen schmal geschnitte-nen Laufhosen nicht unbedingt sagen kann. Vermutlich waren sie bei den Wäschen irgendwie eingelaufen, anders konnte es kaum sein... Auf jeden Fall müssen neue her!
Los geht's in die Emder Innenstadt zum einzig verbliebenen Sportge-schäft. Früher verfügte die Seehafenstadt über mehrere Läden dieser Branche, mit guter Auswahl und in allen Preislagen. Aber dann kam das Internet auch in die Provinz, es wurde verstärkt online gekauft und der stationäre Handel ging ein! Im Laden unter den Arkaden war ich noch nie. Die Rondells davor, mit billig aussehenden Fleecejacken in Bunt-stiftfarben und zu Dumpingpreisen, haben mich immer abgeschreckt. Da sie günstig sind läuft rasch die halbe Emder Jugend damit herum, da möchte ich mich nicht anschließen!
Augen zu und durch. Der Ständer mit den Laufhosen findet sich schnell, aber die Auswahl besteht größenteils aus entweder billig (auch optisch), oder ziemlich teuer, da mit Markenlabel. Vermutlich wurden beide Sor-ten in einer asiatischen Fabrik produziert, in der die Näherinnen vom Lohn kaum leben können. Das ist kein schöner Gedanke und ich möchte das auch nicht durch einen Kauf unterstützen.
Was bleibt? Das gute, alte Winschoten. Natürlich! Ich glaube nicht, dass dort alles besser ist, aber was ich brauche ist ein bestimmter Second-Hand-Shop. Die Sachen dort kommen zum Teil vermutlich auch aus China oder Indien. Aber wenigstens schenkt man ihnen mit dem Kauf ein neues Leben, was ich immer gern unterstütze. Auch mit Möbeln aus zweiter Hand, einem gebrauchten Auto, Hausrat von der Diakonie und dem Rest von Verkaufsplattformen mit gebrauchten Artikeln. Meine Partner fielen übrigens sämtlich auch in diese Kategorie...
Zurück zur sportiven Beinbekleidung! Die kleine niederländische Grenz-stadt ist schnell erreicht, kostenlose Parkplätze finden sich blitzschnell, die benötigten Geschäfte auch, meistens direkt auf der Hauptstraße. Kaum ist die Fußgängerzone erreicht, trifft man schon auf die ersten Nachbarn. Es ist Markttag und da hat man reichlich zugeschlagen. Alles eben viel billiger (wenn man die Spritkosten nicht bedenkt). Und viel fri-scher als bei uns. Ich nicke freundlich und entschwinde.
Mein vor Jahren zum Lieblingsladen erklärtes Trödelgeschäft bietet jede Menge gebrauchten Hausrats und Krempel an, von winzig klein bis zum monströsen Schrank eines reichen niederländischen Kaufmanns längst vergangener Jahrhunderte. Auch Gartengeräte, typische Hollandräder (leider inzwischen etwas rostig, sonst hätte man sie ja auch behalten!), Tee- und Kaffeekannen mit und ohne leichte Schäden, langstielige Wär-mepfannen aus Messing (würde man sich heute noch Kohlen ins Bett legen?), Perücken in Kurz- und Langhaar, Schallplatten, CDs, Petroleum-öfchen, Gaskocher, Wände voller Bücher, mit Kinderspielzeug, alten An-sichtskarten, Holzschuhen usw. Alles was man sucht und von dem man bisher nie gewusst hat, dass man es brauchen würde: hier wird man fündig! Und das tatsächlich zu niedrigen und zudem verhandelbaren Preisen!
Übrigens habe ich dort noch nie einen Nachbarn getroffen. Vermutlich, weil wir Ostfriesen auch gern alles aufheben und sich hinter so man-chem Haus Schuppen an Schuppen in Blech oder Holzausführung auf-reihen. Gefüllt mit? Siehe Warenangebot im Winschoter Laden.
Ganz hinten, auf der linken Seite, stehen die vielen Rollwagen mit ge-brauchter Kleidung. Vermutlich war am Morgen noch alles nach einem unerfindlichen System geordnet. Inzwischen ist allerdings längst das pure Chaos eingetreten. Wie kann man hier etwas finden, das speziell ist? Ich gebe auf und bummle zurück zum Eingang, wo der "Herr der Dinge" hinter einem großen Tresen mit skurilen Sammlungen thront, quasi wie die Spinne im Netz.
Er sieht meinen fragenden Blick und forscht: "Wonach suchst du? Ich hab' so ziemlich alles und was ich nicht habe, das brauchst du auch nicht!" Könnte in etwa hinkommen. "Ich suche eine Jogginghose, die noch wie neu aussieht, Größe so ca. 42, möglich schwarz und günstig soll sie auch sein!"
Der freundliche Holländer zieht fast unmerklich die rechte Augenbraue leicht hoch, schaut mich kaum erkennbar missbilligend an und schreitet voran in die eben von mir durchwühlte Ecke. Binnen Sekunden eines prüfenden Blickes über die Bekleidungsberge greift er zielsicher nach zwei Teilen, zerrt sie heraus, schaut auf die Größenschilder und knurrt: "Für dich 20€. Beide zusammen!" Ein paar lose Karamellbonbons gibt es auch noch dazu. Ist eben alles billiger bei den netten Nachbarn... Die Neuerwerbungen verschwinden in meinem Rucksack.
Jetzt fehlt mir nur noch der obligatorische Kaffee. Den möchte ich aber an einem ganzen speziellen Ort trinken. In meinem Lieblingsrestaurant! Ganz ohne Trubel, direkt an einem Hafenbecken mit einem Plattboden-schiff und vielen Freitzeitbooten, mit dem Ausblick auf typische nieder-ländische Reihenhäuser gekrönt von Schmuckgiebeln und allerlei Zierrat. Meinem eigenen daheim sehr ähnlich, nur um einiges kleiner und eben nicht historisch.
Die "Blauwe Stad" ist ein vor ein paar Jahren künstlich angelegtes Wohn- und Wassersportparadies mit bebauten Inseln, Aussichtsturm, Stränden, Grachten, Bungalows, kleinen Lädchen, ziemlich langen und winzigen Brücken, diversen Restaurants, vielen Schiffen aller Preisklassen und mit zahlreichen Sportangeboten, für große und kleine Bewohner. Dazu gibt es ein süßes, kleines Café am Binnenhafen, dem "Havenkwartier", wo Motoryachten, Segel- und Ruderboote vor Anker liegen.
Irgendetwas gibt es dort immer zu sehen, aber alles läuft völlig unauf-geregt ab. Wenn größere Ausflugsschiffe vorbeifahren wird gewunken und gerufen, manchmal werden auch lustige Sprüche hin und her ge-schickt. Die Bewohner der neu geschaffenen kleinen Stadt im Wasser sind wunderbar entspannt, Ob es vom permanenten Urlaubsfeeling kommt?
Vieles wird geboten, z.B. Konzertabende von Pop bis Bach, Filmvorfüh-rungen auf Riesenleinwänden am abendlichen Strand, Kinderbetreuung, Seniorenfürsorge, Putz- und Gartendienste, Essen auf Rädern und vieles mehr. Eben typisch Niederlande. Leider nicht alles ganz kostenlos...
Viele Jahre später werde ich mich an das kleine Paradies erinnern. Das so mittendrin und doch versteckt liegt. Wer kennt es denn schon in Deutschland?
So wird die Blauwe Stad einmal zu meiner letzten Zuflucht werden. In einem kleinen Backsteinhaus unter so vielen anderen. Ohne Namens-schild. Und unter Pseudonym erworben. Wer weiß, ob Kilian nicht immer noch nach mir sucht? Da ich doch eine der wenigen Zeugen bin, welche noch leben, die grausame Wahrheit seines einstigen Treibens kennen und sie ans Licht bringen könnten...