Die Worte passen zu mir. Gedanken und Situation auch. Vor ein paar Wochen habe ich "zufällig" dieses Blog entdeckt und es als Geschenk empfunden. Ganz leise betrete ich die Welt eines anderen Menschen, darf sei- ne Schritte, Gefühle und Überlegungen begleiten. In sein Herz schauen, Erinnerungen mit ihm teilen, auch für mich selbst lernen daraus. Die Schreiberin ahnt nicht einmal, dass es mich gibt. Wie ich nachdenke über das, was sie erlebt und beschreibt, dass ich dies als Geschenk empfinde. Eine Kostbarkeit in einer Schmuck- schatulle, die ich von Zeit zu Zeit öffnen darf. Um immer wieder ein neues Geheimnis darin zu entdecken.  So vorsichtig und unauffällig wie ich gekommen bin, so gehe ich auch wieder. Nehme Gedanken mit. Bil- der. Erinnerungen an Vergangenes. Hoffnung auf Zukunft. Es sind Briefe mit einem Absender. Ohne Adres- sat. Mir wird eine Seele in einem fernen Land geöffnet. Die wundervolle Seite des Internets. Wie schade, dass es auch die dunkle gibt. Die ich leider erleben musste...

Namaste. Dieser Begriff begegnete mir vor vielen Jahrzehnten. Und ich ahnte nicht, welche Bedeutung er einmal für mich erlangen würde. Damals vermochte ich nicht in die Zukunft zu schauen. Aber heute blicke ich zurück...

Es ist das Jahr 1966 und ich bin zwölf Jahre alt. Das neue Schuljahr beginnt und wie immer bekommen wir unsere Bücherstapel ausgehändigt. Es ist die Zeit der Schulbuchfreiheit. Die mir ermöglicht, eine höhere Bildung zu erlangen. Mir, dem Arbeiterkind in einem Dortmunder Vorort, der von HOESCH bestimmt ist. Damit bin ich aufgewachsen, in der Nachkriegszeit. Eine zerstörte Stadt, Kriegsblinde mit langen, dunklen Mänteln und der breiten gelben Armbinde mit den schwarzen Punkten darauf. Versehrte in hölzerne Wagen, die wie amputierte Särge auf Rollen ausschauen, mit denen sich verhärmt ausschauende Männer ohne Bei- ne mühsam mit metallenen Handgriffen vorwärts rudern.

Überall Ruinen, zwischen mehrstöckigen Häusern, die sich trotzig gegen Tod und Zerstörung zu stemmen scheinen. Die Steinberge sind mit Bretterzäunen abgesperrt, tragen Schilder mit "Betreten verboten! El- tern haften für ihre Kinder!" Oder so ähnlich. Ein Pferdewagen bringt uns Kohlen, ein anderer Kartof- feln. "Mäuse, Mäuse!" ruft der Händler in blauer Kittelschürze und die Hausfrauen eilen die Treppen in den Häusern mit den Werkswohnungen hinunter, mit ihren Körben und Taschen.

Der Bauer wiegt mit seiner alten Standwaage auf der bretternen Ladefläche mit den Gewichten ab und lässt die Erdäpfel polternd in die mitgebrachten Behälter rollen. Wenn ich Glück habe, so steht meine Mutter in der Warteschlange und ich kann das dürre, kleine, rotbraune Pferd mit den Scheuklappen streicheln, dessen Nüstern mir schnaubend über den Kinderarm fahren. Immer bin ich voller Mitleid mit diesem Klapperge- stell, das so schwere Lasten ziehen muss und ruppig behandelt wird. Es hat so schöne dunkle Augen. Ich fühle mich mit ihm irgendwie verbunden. Oft bin ich es aber, die mit ein paar kleinen Münzen in der Hand in der Schlange wartet.

Weil meine Mutter wieder einmal nicht aus dem Bett aufgestanden ist, betäubt von Medikamenten aus vie- len kleinen Döschen, die der alte Hausarzt wohlmeinend verschrieben hat. "Mothers little helpers" so wird man die bunten Pillen später ironisch nennen. Viele Menschen bekommen sie. Kriegstraumatisiert sind sie, oft Flüchtlinge aus dem Osten. Die Straßennahmen zeugen davon. "Neue Heimat" hat man das Viertel sin- nigerweise genannt. Welche Illusion! Die Männer arbeiten im Werk, auf der Kokerei. Die wenigen, welche es noch gibt. Eine ganze Generation von ihnen ist schier ausgerottet.

Was sich auch in den Schulen zeigt. Es unterrichten fast nur Lehrerinnen. Und das Durchschnittsalter aller ist hoch. In der Not hat man die längst pensionierten Lehrkräfte aus der Versenkung zurück an die Schulen geholt. Meine Lehrerin für Englisch und Französisch ist 72 Jahre alt und wackelt ständig mit dem Kopf, was mich total verunsichert. Heute weiß ich, dass optische Andersartigkeit Asperger Autisten irritiert. Nicht aus Vorurteilen heraus, sondern, weil sie es nicht einordnen können. Doch das ist mir erst seit meiner Diagnose klar. Mein Musiklehrer und meine Kunstlehrerin sind 76 Jahre alt. Und damals wirklich sehr alte Menschen, nicht zu vergleichen mit der gegenwärtigen Zeit. Sie gehen an Krückstöcken, tragen schlechte Hörgeräte,  kugelsichere Brillen, haben Altersbuckel. Wie mag man es geschafft haben sie zur Rückkehr ins belastende Berufsleben zu bewegen? Nur Gott kennt die Antwort.

Auch darauf, warum mein Vater es so lange mit meiner Mutter ausgehalten hat. Wir waren irgendwie Ver- bündete und er sei geblieben, um mich nicht zu verlassen, so wird er später sagen. Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Seit ich zehn Jahre alt war, verlor er jegliches Interesse an mir und ich durfte auch nicht mehr mit ihm in der Werkstatt sein. Warum? Darauf werde ich nie eine Antwort bekommen.

Damals trafen wir ein Ehepaar in Bremen. Eine angebliche Kriegsbekanntschaft meiner Mutter. Was nicht ganz gelogen war. Bis auf die Tatsache, dass sie nur ihn kennengelernt hatte. Den schneidigen, jungen Offi- zier in der schwarzer SS-Uniform mit den silbernen Totenköpfen: Johannes. Seine Frau lernte er erst sehr viel später kennen, nach den langen Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft. Da war er längst Vater. Ein verborgener. Meiner. Ich war ein Kuckuckskind. Hat mein Papa, der mich als seine Tochter aufgezogen hat, in dieser Zeit die Wahrheit erkannt? Oder gibt es noch eine weitere? Verlor er das Interesse an mir, weil ich jetzt in seinen Augen kein Kind mehr war? Kein Ebenbild mehr eines "Fast"-Jungen? Auch daruf kennt nur EINER die Antwort.

Meine Eltern trennen sich im Oktober 1965. Die kleine Werkswohnung wird aufgeteilt. Küche und Schlaf-zimmer für Mutter und Tochter, das Wohnzimmer erhält der Vater, Flur und Bad nutzen alle gemeinsam. Die Wohnung ist ein typischer Wiederaufbau. Ganze 50 qm, aufgeteilt für zwei Parteien und drei Menschen, die reinste Katastrophe für die Erwachsenen. Ein Trauma für das Kind. Das nun zum Puffer, zum Prellbock wird, an dem unvernünftige, von Hass erfüllte Eheleute ihre Launen auslassen. Es hin und her schicken mit handgeschriebenen Zetteln voller Beleidigungen und Beschimpfungen. Es wird von einer Tür an die andere gejagt, mit einer Botschaft in der Hand. Und wird immer dünner und durchscheinender. Noch stiller.

Vom Horror daheim flüchte ich mich in die Schule. Siebenundvierzig Schülerinnen (reines Mädchengymna- sium) in einer Klasse. Man stellt die Tische nebeneinander auf, links direkt an die Wand. Immer sechs Mäd- chen sitzen Ellenbogen an Ellenbogen direkt nebeneinander. Wird man zur Tafel gerufen gilt es zu klettern. Über die anderen hinweg. Die Luft ist zum Schneiden, die Stimmung aufgeladen. Die 68er werfen ihre Schatten voraus, das Thema "Schülermitbestimmung" wird Anlass zu heftigen Protesten und Demonstratio- nen. Meine Mitschülerinnen steigen auf Schultische, trampeln, schreien Parolen, schwenken selbstgemalte Schilder. Unsere uralten Lehrer verstehen diese Welt nicht mehr. Sie bekommen Angst, werden krank. 

Mir ergeht es nicht viel anders. Ich verstehe von all' dem nichts. Kein Elternhaus klärt mich auf, wir gehören nicht zum Bildungsbürgertum. Es gibt keine Zeitung, keinen Fernseher. Der wurde meinem Vater zugeteilt  und ich darf nicht hin. Meine Mutter hat um die Musiktruhe gekämpft, den Plattenspieler mit den schwarzen Scheiben von Rudolf Schock, Gerhard Wendland u. Vico Torriani. Die hört sie manchmal an, in ihrer Däm- merwelt von Valium und Diazepam. Mir obliegt die Aufgabe sie aus dem Bett zu bekommen, ihr gut zuzu- reden. Abends umgekehrt, da schläft sie mit dem Kopf auf dem Tisch, oder jammert, klagt, weint. Wenn sie endlich im Bett liegt, dann kann ich meine Hausaufgaben machen. In meinen Schulbüchern lesen. Mich hinwegträumen in eine Welt, die es in meinen Kinderaugen voller Schmerz leicht hat, eine bessere zu sein...

 

Im neuen Geobuch ist Asien das Thema. Wir sollen für das Schuljahr ein Land auswählen. 

Als Jahresarbeit in einer Leistungs - Mappe. Ich weiß sofort, welches es sein soll: INDIEN.

Ort geheimnisvoller Götter, verzierter Elefanten, Tempel. Ich reise gedanklich in die Ferne.

 

 

 

Auf Deinen Wegen will ich geh' n. Sie waren die richtigen für mich. Schon immer...