Ich bin meistens völlig mir selbst überlassen, mein Vater arbeitet in seinen drei Wechselschichten oder hält sich bei Freunden auf, meine Mutter ist überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig. Glück oder Gift für ein As- pergerkind? Die Schule überanstrengt mich. Die vielen Schülerinnen in einem Raum, der permanente Lern- druck, die Leuchtstoffröhren, eine Geräuschkulisse, der ich nicht zu entkommen vermag. Gleichzeitig ist es eine Flucht. Vor der Tristesse der gesplitteten Wohnung. Während ich wiederum das Schulende herbeiseh- ne, um dieser täglichen Qual zu entkommen…

Alles, was mein Umfeld ausmacht, hat mehr oder weniger mit der Nachkriegszeit zu tun. Die kleine Woh- nung, die als Wiederaufbau im Prinzip „Luxus“ bedeutet, für die Werksangehörigen von HOESCH. Die be- engten Schulverhältnisse, die nur dadurch gelöst werden können, indem z.B. Werkräume, Turnhallen und Übungsküchen geteilt werden mit mehreren anderen Schulen. Auf dem Pausenhof hat man Container auf- gestellt, in die man hineinzwängt, was überhaupt nur möglich ist an Schülerinnen.

Welche Belastung auch für die Unterrichtenden! In der letzten Nacht habe ich darüber nachgedacht, wie irritiert diese meist sehr alten Menschen gewesen sein müssen, geboren noch im 19.Jahrhundert, geprägt durch Kaiserzeit, Weltkriege, Nationalsozialismus. Nun standen sie uns gegenüber, der Jugend des soge- nannten Wirtschaftswunders. Rechte einfordernd, die ihnen völlig unverständlich waren. Dass sich Fronten aufbauten, die irgendwann in Gewalt endeten, ist für mich heute vorauszusehen. Doch damals war ich noch viel zu sehr Kind, um zu verstehen, was da vor sich ging!

Habe ich erfassen können was sich in der elterlichen Wohnung abspielte? Sicherlich ebenso wenig. Für mich ging es an jedem Tag wieder nur darum, irgendwie zu überleben. Bis zum Abend. Bis zum Morgen. Meine geliebte Oma war vor ein paar Jahren gestorben, meine Mutter hatte daraufhin einen Nervenzusam- menbruch erlitten, also waren wir nicht zur Beerdigung nach Berlin gefahren. Was bedeutete „tot“? Natür- lich kannte ich Friedhöfe. Und hatte tote Tiere gesehen. Aber das brachte ich nicht zusammen. Meine Groß- mutter hatte immer so gern am Kohleofen gesessen, wenn sie aus Ostberlin für ein paar Wochen zu uns in den Westen reisen durfte. Sie war Ende Oktober gestorben, als es schon ständig regnete, stürmte und bald fror. Ob man sie warm genug angezogen hatte? Daran dachte ich oft. Und betete nachts, wenn mich nie- mand sah, zu Gott sie zu sich zu holen. Weil ich mir vorstellte, dass im Himmel immer die Sonne schiene und niemand mehr frieren würde…

Zweimal in der Woche hatte ich Nachmittagsunterricht. Was bedeutete, dass ich nach dem Vormittagsunter- richt nur wenige Minuten daheim verbrachte, um Turnbeutel oder Handarbeitskorb zu packen und wieder loszumarschieren, weg von der Werkssiedlung, bis hinunter in das alte Ortszentrum. Dort war ich nie gern, weil da all‘ die düsteren Ruinen und Bretterzäune an den Krieg erinnerten, den ich nicht kannte. Und mir entsetzlich vorstellte, den Geschichten nach, die mir Mutter und Schwester erzählt hatten. Feuer, das vom Himmel fiel, brennende Häuser, Männer in Flugzeugen, die dicht über dem Boden flogen, um Flüchtlinge mit Maschinenpistolen zu zerfetzen, Frauen, Kinder, alte Menschen. Dazu dürre Pferde, die auf Holzkarren letzte Habseligkeiten der Ausgelieferten zogen, bis sie zusammenbrachen. Konnte die Hölle schlimmer sein, von der der Pfarrer so oft sprach?

Manchmal fielen Sport, Hauswirtschaft oder der Werkunterricht aus. Dann setze ich mich für eine Weile in die dunkle Kirche, deren Türen stets offenstanden. Das war mir lieber, als den weiten Weg sofort zurückzu- gehen. Ich fühlte mich irgendwie geborgen und beschützt. Der Pfarrer hatte mich getauft und danach auf den Arm genommen. Als er mich den Eltern zurückgeben wollte, soll ich mich an ihm festgeklammert und laut geschrien haben. Ob so ein winziges Wesen wohl weiß, was es im Elternhaus bereits erlitten hat?

Der zweite Zufluchtsort war die Bücherei. Eine Zauberwelt für mich. Voller Schätze und Geheimnisse. Ich nahm mir vielversprechend ausschauende Lektüre aus den Regalen, verzog mich in eine stille Ecke und las. Die Angestellten kannten mich bald, wussten, dass ich alles wieder ordentlich an die ursprünglichen Stellen zurückbrachte, wenn der Gong das Ende der Lesezeit verkündete.

Danach ging ich an den beleuchteten Schaufenstern der kleinen City entlang. Blieb immer wieder vor den beiden Spielzeuggeschäften stehen. Verliebte mich einmal in einen Hund von Steiff, der mich traurig aus seinen dunklen Glasaugen ansah. Ich sehe ihn heute noch ganz genau vor mir, in jeder Einzelheit. Vermut- lich dachte ich, er sei so einsam und unglücklich wie ich. Dem hellen Vitrinen - Licht ausgeliefert und ohne tröstende Streicheleinheiten. Ich versprach ihm, dass ich ihn mir zu Weihnachten wünschen und aus dem Glaskasten befreien würde. So schrieb ich ihn auf meinen Wunschzettel und nichts sonst. Mit vielen Ausru- fezeichen. Doch ich bekam zu diesem Fest: Nichts. Es war das Schrecklichste in meinem Leben überhaupt. Weil ich verprügelt wurde, einfach nur weil ich da war. Als greifbares Objekt für Hass, Enttäuschung und unbezähmbare Wut…  

Viel später, mit 50plus, habe ich begonnen Steifftiere zu sammeln. Meistens die alten, aus „meiner“ Zeit. Um nun, da ich es mir finanziell leisten konnte, mein Versprechen einzulösen, dass ich damals nicht hatte halten können? Ich begann Schnitte zu entwerfen und Bären zu nähen. In Erinnerung an meinen einzigen Freund und Tröster aus Mohair in den Kindertagen? Vermutlich. Einmal gab ich in der Reha einen Kurs zum Thema. Hinterher waren alle neuen „Mütter“ sehr stolz. Sie sagten: „Weil es kein so richtiger Teddy ist!“ Ich nickte. „Die entwerfe ich nicht. Nur Bären!“ Für mich ist da ein großer Unterschied…

Erstaunlich, wie wir geprägt werden, durch scheinbare Belanglosigkeiten. Vermutlich waren es eben keine, als sie in unser Blickfeld traten. Wir haben sie nur im Laufe der Zeit vergessen. So, wie ich meine INDIEN – Mappe vergessen habe. Bis vor einigen Jahren. Da fragte mich mein Sohn beiläufig, ob ich wisse, welches die verbreiteteste Glaubensrichtung in diesem Subkontinent sei. Ich antwortete ohne zu zögern: „Der Hin- duismus!“ Was ihn sehr erstaunte. Nicht die Tatsache an sich. Sondern, dass ich es wusste...

 

Nie hätte ich geahnt, welche Bedeutung das einmal erlangen würde.

Für ihn. Und mich. Viele Jahre später. Jetzt...

 

 

 

 

Learn to be lonely. Learn to be your one companion...

Dein Weg ist einsam - lern' an Dich allein zu glauben ( in der deutschen Variante)...