Wieder fuhr ich weit mit dem Berli. Wie das nun einmal ist, wenn man landschaftlich schön wohnt, aber in einer Region, in welcher alle Behörden mehr oder weniger weise auf diverse Orte verteilt sind, damit die Einnahmen gesplittet werden. Alle wollen verdienen, auf ihre Art wichtig sein. Die Menschen welche zwi- schen diesen Orten gegen teures Entgelt und mit enormem Aufwand pendeln müssen, interessieren nie- manden. Sie sind Verwaltungsnummern. Egal ob alt, behindert, arm. Oder alles zusammen. Das wäre dann eben PP. Persönliches Pech.

Nach schlafloser Nacht, die ich in der Panik verbracht hatte, was mich nun erwarten könnte, sitze ich ange- spannt beim Vorstellungsgespräch. Zwei Herren in Anzügen hinter einem "Richtertisch" verhören mich, blättern in meiner Bewerbungsmappe. Sie vertreten eine der größten Pflegeorganisationen der damaligen Zeit überhaupt. Eine "Massenabfertigungskette". Pflege im Minutentakt? Nein, hier geht es um Sekunden! Die ich fortan verwalten soll.

Die Erinnerung an mein Vorstellungsgespräch im Pflegedienst einige Jahre zuvor war sofort präsent. Das Empfinden: Hier bist du verkehrt, das ist Horror, Horror, Horror! Damals entkam ich meinem Schicksal nicht. Weil das Arbeitsamt nicht den Menschen sieht, sondern ein Aktenzeichen. Ich hatte mich vorgestellt, war aus der Gruppe der Bewerber ausgewählt worden, also wo war das Problem? Ich spielte erneut das Spiel von damals (in purer Asperger Panik!) und antwortete quasi auf jede Frage mit: "Nein, das beherrsche ich leider nicht, mit diesem Programm habe ich noch nie gearbeitet!" Oder: "Ich war nach einem Burnout lange krank und habe die dringliche Empfehlung bekommen, nie mehr im Sozialbereich tätig zu sein!" 

Was diese Herren im grauen Edelzwirn wollen, das ist mir schnell klar. Die Verwaltungskraft mit langjähri- ger Erfahrung. Und on top die Krankenschwester mit der Zusatzausbildung "Gerontopsychiatrie". Ich kann mich drehen wie ich will, sie starren auf die Zeugnisse. Aber nein, ich sähe das grundfalsch, sie suchen nur eine Verwaltungsleiterin! Fluchtartig verlasse ich den Glaspalast, renne zum Berlingo und bin für jeden Ki- lometer dankbar, den er mich davonträgt. Was mir drohen würde ist mir nur zu klar! Alles von vorn, zurück auf Anfang. Plus 70km Autofahrt täglich. Ich hätte daheim bleiben sollen, in meinem Haus, bei meinen Pati- enten, die um mich her wohnten. Mich geliebt haben. Den Mitarbeiterinnen, mit denen mich Freundschaft verband. Was tue ich hier, in der Fremde?

Im kleinen Studio unter dem Dach fühle ich mich in Sicherheit. Der Rotfellige rollt sich schnurrend auf mei- nem Schoß ein. Seine Welt ist in Ordnung, wenn ich da bin. Ich verkörpere für ihn das Wichtige im Leben. Geborgenheit, ein Zuhause. Was ich selbst nicht habe.  Das Telefon schrillt, zerstört den kurzen Augenblick von Frieden. Es tritt genau das ein, was vor wenigen Stunden noch vehement bestritten wurde: Ich soll im Abend- / Nachtdienst eine ausgefallene Pflegekraft ersetzen! Schock!

Kann ein Laie sich das jetzt überhaupt vorstellen? Ich soll in der Dunkelheit im Landkreis herumfahren, auf die gewohnte Minute genau bei Patienten eintreffen, die mich noch nie gesehen haben, ebensowenig wie ich sie. Ich hätte keine Ahnung von ihrer Erkrankung, den häuslichen Umständen, stände vermutlich den An- gehörigen von beatmeten und über Sonde ernährten Patienten gegenüber. Sterbenden. Von ganz klein bis ganz alt. In dem Zwang zu erklären ich wäre ein Notfallersatz. Mit Blick auf die Uhr. Dem Druck Schicksalen gerecht zu werden. Und der Verantwortung für das Leben eines Menschen.

Heute weiß ich, dass noch viel mehr dahinter stand, als das, was mir in diesen Momenten durch den Kopf schoß. Ich dachte nur an das, was mich erwarten würde. Worauf Patienten in Ausnahmesituationen ein Recht hatten. An die Chefs, die ebenfalls mit optimalen Leistungen rechneten. Und fürchtete mich gewaltig davor, dem nicht von jetzt auf gleich entsprechen zu können.

Doch es ging um so viel mehr. MICH selbst. Niemand kann einen Asperger Autisten mit einer Namensliste in einer ihm fremden Gegend aussetzen mit Aufträgen, die überhaupt nicht einzuschätzen sind. Das funkti-oniert nicht. Das ist schon für neurotypische Menschen eine totale Überforderung, für einen Asperger nicht zu erfüllen. Was ich genau gesagt habe erinnere ich nicht. Irgendwie befand ich mich außerhalb meines Kör- pers und meiner Seele. Und tat danach in meiner Auflösung das Einzige, was mir einfiel.

Ich rief in Hamburg an. Erklärte, was nun passieren würde. Dass ich einen Job abgelehnt hatte, was sicher- lich am Folgetag dem Arbeitsamt gemeldet würde. Und eine Einstellung meines Arbeitslosengeldes zur Fol- ge hätte. Ich bräuchte also Arbeit, jetzt, sofort und auf der Stelle! Seltsamerweise hörte man mir zu. "Wo ist das Problem? Klar stellen wir dich ein! Nicht auf Vollzeit, aber wir haben ohnehin große Pläne der Expansion und da passt du hundertpro hinein!" Dann folgte ein Angebot. Eine bestimmte Stundenanzahl für ein Fest- gehalt. Wenn ich einverstanden wäre, so solle ich am Folgetag vorbeikommen.

Mir blieb die Nacht für die Entscheidung. Welche nur so ausfallen konnte, wie es geschah. Was tut man, wenn man die Wahl hat zwischen Pest und Cholera? Man hofft zu überleben. Irgendwie. Ich dankte Gott für diese meine Errettung. Sehr wohl ahnend, was auf mich zukommen würde. Und doch ohne jegliche Chance auf Flucht. Hätte ich gewusst, was heute klar ist, hätte ich damals ohne Probleme einen Rentenantrag ge- stellt. Wäre mit diesem Einkommen versorgt gewesen, wenn auch mit Sparsamkeit. Doch da standen immer nur "Burnout" im Raum und "Posttraumatische Belastungsstörung". So setzte sich also ein Alptraum fort...

 

Jahre später landete ich erneut in einer Klinik. Wieder "Burnout". Schrieb den Lebenslauf.

Darunter: "Ich bin dankbar  viel Glück im Leben gehabt zu haben."

Diese Grundlage zog man mir rasch unter den Füßen weg. Es gibt oft mehrere Wahrheiten...