Nein, es war nicht gerade der Piccadilly Circus, auf dem ich gelandet war, trotzdem reichte mir die Verwirrung der sternförmigen Straßen. Dazu brach nach jenem völlig verregneten Frühjahr mit Schnee bis in den April hinein (was auch Portugal ähnlich erlebt hatte) praktisch von jetzt auf gleich der Sommer aus. Im Prinzip war das po- sitiv anzusehen, allerdings nun nicht gerade in meiner Situation, quasi doppelt angezogen, mit meinem „Kartof- felsack“ auf dem schwitzenden Rücken...

 

Zu meiner großen Erleichterung erkannte ich an einer Häuserecke ein Werbeschild, welches ich mutig als „Tou- risteninformation“ interpretierte. Also nichts wie hin! Kühle umfing mich. Und Freundlichkeit. Echte. So ein tiefes Gefühl, willkommen zu sein. Obwohl es sich nicht um die erwartete Info handelte, sondern mehr um eine Ticketvermittlung der Stadtrundfahrtbusse, für Besich-tigungen, Museen usw. Das tat der Sache aber keinen Abbruch. Eine Stadtkarte wurde ausgebreitet, der ge- genwärtige Standort markiert und das angestrebte Domi- zil. Es schien nicht allzu weit entfernt zu sein, trotzdem war ich etwas verwirrt, in welche der vielen Straßen und Gassen ich mich denn zu wenden hätte. Mit meiner Frak- tur und nach dem langen Camino war ich für längere Irr- wege nicht mehr zu haben...

 

Aber durch Ermutigung gestärkt verließ ich tapfer den kühlen Hort der Gastfreundschaft und machte mich auf, eine rampenartig nach oben führende Straße zu erklim- men. Die später nach links abbiegende konnte die gesuch- te sein, aber wie schon von vielen südeuropäischen Län- dern gewohnt, es gab keinerlei Schilder mit Namen. Wie ich das hasse!

 

Abzuwarten half nichts, es würde kaum jemand kommen, um rasch eine Beschriftung an die Häuserwände zu zim- mern... „Versuch macht klug“, sagt der Volksmund und es blieb mir auch gar nichts sonst übrig. Die Straße gefiel mir immer weniger, je tiefer ich in sie hineintauchte. Das hatte sicher auch damit zu tun, eine Frau zu sein. Und mit portugiesischen Gegebenheiten überhaupt nicht ver- traut. Ich sah also dichtgedrängte, mir baufällig erschei- nende Häuser, mit engen Bürgersteigen, auf denen zum Teil in Gruppen fremdländisch erscheinende Männer hockten, oder standen. Lustig, wenn man das so sieht, obwohl man selbst derjenige ist, welchen man als anders aussehend und auffallend wenig ins Bild passend be- zeichnen könnte, was mir in diesem Moment der An- spannung aber gar nicht klar war...

 

Ich kenne Pakistani und Inder recht gut, meine Ein- schätzung der Herkunftsländer ging in diese Richtung und erwies sich später auch als zutreffend. Die restliche Beurteilung nicht. Portugiesische Häuser sind oft eher schmal und hoch (Baugrund war schon immer teuer und Platz knapp) und was ich hochmütig als fortgeschrittenen Verfall deutete ist eben gerade das, was auch an anderen Orten eben gerade den morbiden Charme einer Stadt aus- macht. Hier kam allerdings dazu, dass die jeweiligen Erd- geschosse sich wie dunkle Höhlen in unergründliche Hintergründe auszubreiten schienen und offenbar mit schier unglaublichen Mengen von Waren in Kartons und auf windschiefen Regalen vollgestopft aus allen Nähten platzten.

 

Ein ganz leicht unangenehmer Geruch zog mir auch in Nase, den ich nicht zu deuten wusste. Mit anderen Wor- ten: Ich fühlte mich an dieser Stelle ganz und gar un- wohl, wollte nichts wie weg, und verwünschte meine Ent- scheidung, auf meinem winzigen Smartphone-Display ein Hostal für gut befunden und todesmutig aus der Ferne gebucht zu haben. Das hatte ich nun davon!

 

Backpacker-Reisen sind abenteuerlich. Und eben diese Erfahrung ist/war schon immer der Reiz daran. Aber das hielt sich für mich im damaligen Zustand zwangs-läufig in engen Grenzen. Ich wollte einfach nur ankom- men, meine zehn Kilo schwere Last loswerden, mich auf ein Bett in einem kühlen Raum legen und ausruhen! Hintragen würde mich niemand, also galt es auf die Zähne zu beißen und zu hoffen, dass von irgendwo das ersehnte Hostalschild einladend winken würde. Was es aber absolut nicht tun wollte. Die vielen Männer schau- ten mir nach (was hätten sie in der Mittagshitze auch anderes tun können) und freuten sich, als ich Minuten später die Straße wieder herunter kam. Vermutlich fragten sie sich was ich suchte. Und jetzt tun würde. Das erging mir nicht anders!

 

Seltsamerweise beflügelte mich diese ungeteilte Aufmerk-samkeit (wann ist Frau meines Alters schon mal derge- stalt intensiv Ziel männlicher Blicke), sofort noch ein- mal zurück zu marschieren. Mit Adlerblick auf jedes Haus, jede Tür. Letzter Versuch vor dem Hitzschlag! Und siehe da, das gesuchte Schild fand sich. Niedlich klein und schön versteckt. Also in New York, da wäre aber, da hätte man stattdessen... Dort befand ich mich aber nicht. Also nichts wie hinein, durch die schmale Tür. Sesam öffne dich – ich stand vor einer chicen Re- zeption in einem schönen Raum, mit (na was schon) wieder supernetten Menschen. „Gabrielle, nice to see you... you are welcome!“ Ach, wie schnell kann sich doch Wohlbefinden ausbreiten!

 

Eine Karte als Türöffner erhielt ich, Schlüssel mit Band für meine Gepäckschublade und eine Führung durchs Haus. Was es da alles gab! Den Computerraum, den für Wäsche mit vielen Maschinen, die Küche mit allen Schikanen, den Frühstücksraum, ein Café für Kaf- feedurst und eventuelle Unterzuckerung, den kleinen Bü- cherraum mit Leseecke, Die riesige Dachterrasse mit Grill, das gestylte Aquarium in den Wänden ringsum eingelassen und, und und. Alles wurde mir in größter Ruhe gezeigt und erklärt. Wie man einen Freund em- pfangen würde, auf dessen Besuch man sich sehr gefreut hat. In einem Design-Hostal mit mehrfacher interna-tionaler Auszeichnung war ich also „zufällig“ gelandet. Glück muss der Mensch haben!

 

Mein Zimmer war dann der Härtefall. Nur zwei Dop- pelstockbetten in gigantischen Ausmaßen standen dort (im Vergleich zum Camino), aus chicem Naturholz, mit ultradicken Matratzen, ebensolchen Kissen und Dcken. Blütenweiße gestärkte Bettwäsche. Integrierte Lese- lampe, Ablagebord, Ventilator, Steckdosenleiste und als Highlight: einem umlaufenden Vorhang für die Privat-sphäre. Auch im Bad: Design ohne Ende. Das allerbeste des Ganzen: Ich hatte alles ganz für mich allein!

 

Als ich die wunderschöne Zweiflügeltür des Balkons öffnete, lag eine Altstadt mir sozusagen zu Füßen. Über rote Dächer hinweg entdeckte ich zahlreiche Türmchen, Kathedralen, Bauwerke verschiedenster Jahrhunderte. Ein strahlend blauer Himmel mit hin getupften Watte-wölkchen spannte sich darüber. Ich war im absoluten Rucksacktouristen-Paradies angekommen!

 

Eine ausgiebige Dusche und in meine Wechselkleidung schlüpfen zu können beflügelte meine Kräfte. Erschöp- fung und Schmerzen traten in den Hintergrund – diese vielversprechende Welt galt erobert zu werden! Als ich Straße entlangkam erschienen mir die Männer schon gar nicht mehr so fremd wie noch kurz zuvor. Manche nickten mir zu, wie einer alten Bekannten. Und ich entdeckten, dass es in manchen kleinen Lädchen Lebensmittel zu kaufen gab. Das traf sich gut, dort würde ich mich später für den Abend versorgen!

 

Ab hier nun der Originaltext aus meinem schwarzen Heft in Schreibschrift:

 

An der kleinen Kreuzung angekommen, stellte sich die Frage, in welche Richtung ich mich nun wenden sollte. Auf dem Stadtplan war ein Fluss eingezeichnet, der of- fenbar nicht allzu weit entfernt sein konnte. Und so hoffte ich, mit dem eigentümlichen Gang, denn mir meine nicht ausgeheilte Verletzung aufgezwungen hatte, im richtigen Stadtviertel unterwegs zu sein.

 

Bald erkannte ich eine Stahlkonstruktion, die ich kühn als Brücke interpretierte und hielt darauf zu. Es war keine besonders schöne Gegend, mit nichtssagenden Häu- sern aus vergangenen Jahrzehnten und Geschäften, wie man sie heutzutage mit ihrer Uniformität überall auf der Welt zu finden vermag. Fast wollte ich mich schon ent- täuscht umdrehen und doch lieber der eigentlichen Stadt zuwenden, als ich einige halbverfallene Häuser am Fuß der Brücke wahrnahm. Die in ihrer Morbidität einen seltsamen Zauber auf mich ausübten und mich magisch anzuziehen schienen...

 

.-.-.-.-.-.-.-.-.-

Zitat Ende

 

 

Was mich erwartete, das veränderte mich für immer.

Ich verliebte mich in (m)eine Herzklopfenstadt.

Mit glühender Leidenschaft und ewiger Sehnsucht...